Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Tarifverträgen. Tariföffnungsklausel nach § 77 Abs. 3 BetrVG. Rechtsmissbrauch und Umgehung des § 613a Abs. 1 BGB. Veränderung kollektiver Rechtspositionen vor einem Betriebsübergang
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Wortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortsinn hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat.
2. Nimmt eine Bestimmung eines Tarifvertrags auf § 77 Abs. 3 BetrVG Bezug, ergibt die Auslegung, dass die Tarifvertragsparteien gesehen haben und sehen wollten, dass sie durch diese Tarifklausel eine Öffnung ihrer tariflichen Regelungen für eine Betriebs- bzw. Gesamtbetriebsvereinbarung vornehmen wollten.
3. Ein Rechtsgeschäft darf und kann die mit ihm beabsichtigte Wirkung nicht entfalten, wenn es sich als objektive Umgehung zwingender Rechtsnormen darstellt. Wenn ein Rechtsgeschäft bewusst und gewollt dazu dienen soll zu verhindern, dass der künftige Betriebserwerber in sämtliche bestehende Rechte und Pflichten aus den Arbeitsverhältnissen eintritt, ist es wegen Rechtsmissbrauchs durch Umgehung des § 613a Abs. 1 BGB unwirksam und nichtig (§ 134 BGB).
4. Eine Veränderung kollektiver Rechtspositionen im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Betriebsübergang ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Wird eine kollektive Regelung wie z.B. eine Gesamtbetriebsvereinbarung kurz vor dem rechtlichen oder tatsächlichen Betriebsübergang aufgehoben, ist dies nicht rechtsmissbräuchlich, auch wenn damit die bisherigen günstigeren Regelungen der Kollektivregelung entfallen. Es ist nicht unüblich im Wirtschaftsleben, dass Sanierungstarifverträge oder -betriebsvereinbarungen kurz vor einem Betriebsübergang aufgehoben werden, um die Schutzfunktion des § 613a Abs. 1 BGB nicht zu gefährden.
Normenkette
RL 2001/23/EG Art. 3 Abs. 3; BGB §§ 134, 613a Abs. 1; BetrVG § 77 Abs. 3 S. 2, Abs. 4; GBV E.N. v. 31.07.2009 Nr. 2
Verfahrensgang
ArbG Kiel (Entscheidung vom 23.03.2017; Aktenzeichen 1 Ca 1061 c/16) |
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel vom 23.03.2017 - 1 Ca 1061 c/16 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten nach einem Betriebsübergang über die Höhe der Vergütung des Klägers.
Der Kläger ist Mitglied der IG Metall. Er war seit 1997 bei der Streithelferin - ein Unternehmen der Autoindustrie - in deren K. Niederlassung beschäftigt. Diese Niederlassung war bei der Streithelferin als eigener Betrieb mit einem Betriebsrat organisiert. Seit dem 01.05.2016 betreibt die Beklagte die Niederlassung in K.. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ging zu diesem Zeitpunkt im Wege des Betriebsübergangs auf die Beklagte über.
Die Streithelferin war und ist aufgrund Verbandszugehörigkeit an die Tarifverträge der Tarifgemeinschaft des Kfz-Gewerbes in S-H sowie an die Tarifverträge für Betriebe des Kraftfahrzeug- und Tankstellengewerbes in B-W gebunden. Die Beklagte ist nicht tarifgebunden.
Am 31.07.2009 schlossen die Streithelferin und ihr Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung zum Vergütungssystem "E.-N." in den Niederlassungen, TruckStores und Logistik-Centern der D. AG (Anlage B 3, im Folgenden: GBV E.-N.) sowie eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Einführung des Vergütungssystems ERA Niederlassungen in den Niederlassungen, TruckStores und Logistik-Centern der D. AG "E.-N." (Anlage B 4).
Die GBV E.-N. trat zum 01.07.2010 in Kraft und war frühestens zum 31.12.2017 kündbar. Zum Geltungsbereich heißt es in der Vereinbarung, dass sie die Grundsätze der Vergütung der für die Beschäftigten in den M-B-Niederlassungen, TruckStores und Logistik-Centern der D. AG in Deutschland regelt. Gemäß Ziffer 2 GBV E.-N. teilt sich das Entgelt der Beschäftigten der Niederlassungen in der E.-N.-Vergütungssystematik grundsätzlich in drei Entgeltbestandteile auf, nämlich tarifliches Grundentgelt, tarifliches Leistungsentgelt und tarifliche Erschwerniszulage. Das Vergütungssystem sieht insgesamt 17 Entgeltgruppen vor. Damit unterscheidet es sich erheblich von dem System der Tarifverträge des Kfz- Gewerbes. Dort sind weniger Entgeltgruppen vorgesehen und die Bewertungslogik zur Ermittlung des Grundentgelts sowie der Wertigkeit der Entgeltgruppen ist weniger komplex gestaltet. Für das Leistungsentgelt sieht die GBV drei Modelle vor. Die Erschwerniszulage ist in Ziffer 2.4 der GBV E.-N. geregelt. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Anlagen B 3 und B 4 Bezug genommen.
Am 15.12.2009 schlossen die IG Metall Bezirk B-W und die Tarifgemeinschaft für Betriebe des Kraftfahrzeug- und Tankstellengewerbes B-W...