Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsbedingte Kündigung. Betriebsstilllegung. vorzeitige Kündigung. Dringlichkeit. greifbare Formen. Rechtsmissbrauch. Betriebsstilllegung und vorzeitige Kündigung (hier: zwei Jahre vor Betriebsstilllegung)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine langfristige sog. vorzeitige Kündigung kann im Falle einer betriebsbedingten Kündigung wegen behaupteter Betriebsstilllegung dem Erfordernis der Dringlichkeit bzw. des Vorliegens greifbarer Formen entgegenstehen. Bei einer mehr als zweijährigen Vorlaufzeit zwischen Unternehmerentscheidung und zeitgleich ausgesprochener Kündigung und der geplanten Betriebsstilllegung kann der Ausgang geplanter Bemühungen für einen Unternehmensverkauf oder Weiterverpachtung des Betriebs realistisch und bei vernünftiger wirtschaftlicher Betrachtungsweise noch nicht verlässlich prognostiziert werden.

2. Darüber hinaus kann eine mit einer Vorlaufzeit von zwei Jahren ausgesprochene vorzeitige Kündigung wegen Betriebsstilllegung rechtsmissbräuchlich sein. Der insoweit abgestuft darlegungspflichtige Arbeitnehmer kann bei einer Kündigungsfrist von zwei Jahren ernsthaft keine konkreten Anhaltspunkte für etwaige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vortragen, weil die Entwicklungen im Unternehmen über eine so lange Zeit nicht vorauszusehen sind. Die vorzeitige Kündigung wirkt sich negativ für den Arbeitnehmer aus.

 

Normenkette

KSchG § 2 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 23.04.2010; Aktenzeichen 4 Ca 13/10)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgericht Lübeck vom 23.04.2010, Az. 4 Ca 13/10, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung sowie um Weiterbeschäftigung.

Die Beklagte ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der M. Hotel & Resorts AG. Sie betreibt in Deutschland an verschiedenen Standorten Hotels. Im Dezember 2009 waren es 16, heute sind es 13 Hotels.

Die am … 1979 geborene Klägerin ist verheiratet und seit dem 14.08.2006 bei der Beklagten im M. Hotel in L., zuletzt als Sales Managerin, zu einem Monatsgehalt von derzeit EUR 2.287,00 brutto in Vollzeit beschäftigt. Ausweislich des Formulararbeitsvertrages vom 08.08.2006 ist die Beklagte berechtigt, der Klägerin bei unveränderten Bezügen in anderen Betrieben auch eine andere, ihren Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit zu übertragen.

Die Alleingesellschafterin der Beklagten befasste sich am 18.11.2009 mit der strategischen Ausrichtung der von der Beklagten in Deutschland betriebenen Hotels, u. a. des M. Hotels in L.. Die Alleingesellschafterin beschloss, den für das Hotelgebäude in L. bestehenden Mietvertrag nicht zu verlängern, sondern zum 31.12.2011 auslaufen zu lassen, zu diesem Zeitpunkt den Hotelbetrieb in L. einzustellen und, soweit notwendig, bestehende Arbeitsverhältnisse zu kündigen (Anlage B 2 = Bl. 51 f. d. A.). In Umsetzung dieses Beschlusses kündigte die Beklagte den Pachtvertrag über das Grundstück nebst aufstehendem Hotelgebäude „Beim H.”/W.-B.-Allee 1-5 in L. gegenüber der Vermieterin, der H. Immobilien GmbH & Co. KG, fristgemäß mit Schreiben vom 11.12.2009 zum 31.12.2011 (Anlage B 3 = Bl. 53 d. A.). Bei der Agentur für Arbeit erstattete die Beklagte am 14.12.2009 die Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG (Bl. 55-61 d. A.).

Am 17.12.2009 führte die Beklagte im Hotelbetrieb in L. eine Betriebsversammlung durch. Sie unterrichtete die Belegschaft darüber, dass die Geschäftsführung der Beklagten sich entschieden habe, den Mietvertrag nicht über den 31.12.2011 hinaus zu verlängern und den Hotelbetrieb zu diesem Zeitpunkt einzustellen. Im Anschluss daran wurde allen anwesenden Mitarbeitern, unter anderem der Klägerin, die ordentliche Kündigung vom 17.12.2009 zum 31.12.2011 ausgehändigt (Bl. 15 d. A.). In einem dem Kündigungsschreiben beigefügten Begleitschreiben vom 17.12.2009 teilte die Beklagte mit, dass ihr die Weiterbeschäftigung über den Schließungszeitpunkt hinaus nicht möglich sei, weil sie zu diesem Zeitpunkt die Hotelanlage an die Vermieterin zurückgeben müsse. Falls der Vermieter oder ein neuer Betreiber das Hotel ohne wesentliche Veränderung und ohne größere Unterbrechung fortführe, würde ein Betriebsübergang vorliegen, sodass die Arbeitnehmer ggf. einen Beschäftigungsanspruch gegenüber einem neuen Arbeitgeber hätten. Über den Fortgang der Dinge habe sie derzeit indessen keine Kenntnisse (Bl. 16 d. A.).

Die Klägerin hat am 04.01.2010 beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage erhoben.

Sie hat die Auffassung vertreten,

bei der Kündigung handele es sich um eine sozial ungerechtfertigte Vorratskündigung. Dringende betriebliche Erfordernisse seien derzeit nicht gegeben. Die mit einer mehr als zweijährigen Frist ausgesprochene Kündigung erlaube keine Beurteilung von Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 17.12.2009, zuge...

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