Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsbedingte Kündigung. Betriebsstilllegung. vorzeitige Kündigung. Dringlichkeit. greifbare Formen. Rechtsmissbrauch. Betriebsstilllegung und vorzeitige Kündigung (hier: zwei Jahre vor Betriebsstilllegung)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Eine langfristige sog. vorzeitige Kündigung kann im Falle einer betriebsbedingten Kündigung wegen behaupteter Betriebsstilllegung dem Erfordernis der Dringlichkeit bzw. des Vorliegens greifbarer Formen entgegenstehen. Bei einer mehr als zweijährigen Vorlaufzeit zwischen Unternehmerentscheidung und zeitgleich ausgesprochener Kündigung und der geplanten Betriebsstilllegung kann der Ausgang geplanter Bemühungen für einen Unternehmensverkauf oder Weiterverpachtung des Betriebs realistisch und bei vernünftiger wirtschaftlicher Betrachtungsweise noch nicht verlässlich prognostiziert werden.

2. Darüber hinaus kann eine mit einer Vorlaufzeit von zwei Jahren ausgesprochene vorzeitige Kündigung wegen Betriebsstilllegung rechtsmissbräuchlich sein. Der insoweit abgestuft darlegungspflichtige Arbeitnehmer kann bei einer Kündigungsfrist von zwei Jahren ernsthaft keine konkreten Anhaltspunkte für etwaige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vortragen, weil die Entwicklungen im Unternehmen über eine so lange Zeit nicht vorauszusehen sind. Die vorzeitige Kündigung wirkt sich negativ für den Arbeitnehmer aus.

 

Normenkette

KSchG § 2 Abs. 2

 

Verfahrensgang

ArbG Lübeck (Urteil vom 29.04.2010; Aktenzeichen 2 Ca 35/10)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgericht Lübeck vom 29.04.2010, Az. 2 Ca 35/10, wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung.

Die Beklagte ist eine 100%ige Tochtergesellschaft der M. Hotel & Resorts AG. Sie betreibt in Deutschland an verschiedenen Standorten Hotels, im Dezember 2009 waren es 16, heute sind es 13 Hotels.

Der am … 1968 geborene Kläger ist ledig und seit dem 15.01.2001 bei der Beklagten im M. Hotel in L., zuletzt als Bankett Service Mitarbeiter zu einem Monatsgehalt von derzeit EUR 1.724,00 brutto in Vollzeit beschäftigt. Arbeitsvertraglich vereinbarten die Parteien, dass die Beklagte berechtigt ist, dem Kläger bei unveränderten Bezügen auch in anderen Betrieben eine andere, seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit zu übertragen.

Die Alleingesellschafterin der Beklagten befasste sich am 18.11.2009 mit der strategischen Ausrichtung der von der Beklagten in Deutschland betriebenen Hotels, u. a. des M. Hotels in L.. Sie traf die Unternehmerentscheidung, den für das Hotelgebäude in L. bestehenden Mietvertrag nicht zu verlängern, sondern zum 31.12.2011 auslaufen zu lassen, zu diesem Zeitpunkt den Hotelbetrieb in L. einzustellen und, soweit notwendig, bestehende Arbeitsverhältnisse zu kündigen (Anlage B 2 = Bl. 30 f. d. A.). In Umsetzung dieses Beschlusses kündigte die Beklagte den Pachtvertrag über das Grundstück nebst aufstehendem Hotelgebäude „Beim H.”/W.-B.-Allee 1-5 in L. gegenüber der Vermieterin, der H. Immobilien GmbH & Co. KG, fristgemäß mit Schreiben vom 11.12.2009 zum 31.12.2011 (Anlage B 3 = Bl. 32 d. A.). Bei der Agentur für Arbeit erstattete die Beklagte am 14.12.2009 die Massenentlassungsanzeige gemäß § 17 KSchG (Bl. 34-40 d. A.).

Am 17.12.2009 führte die Beklagte im Hotelbetrieb in L. eine Betriebsversammlung durch. Sie unterrichtete die Belegschaft darüber, dass die Geschäftsführung der Beklagten sich entschieden habe, den Mietvertrag nicht über den 31.12.2011 hinaus zu verlängern und den Hotelbetrieb zu diesem Zeitpunkt einzustellen. Im Anschluss daran wurde allen anwesenden Mitarbeitern, unter anderem dem Kläger, die ordentliche Kündigung vom 17.12.2009 zum 31.12.2011 (Bl. 4 d. A.) ausgehändigt. In einem dem Kündigungsschreiben beigefügten Begleitschreiben vom 17.12.2009 teilte die Beklagte mit, dass ihr die Weiterbeschäftigung über den Schließungszeitpunkt hinaus nicht möglich sei, weil sie zu diesem Zeitpunkt die Hotelanlage an die Vermieterin zurückgeben müsse. Falls der Vermieter oder ein neuer Betreiber das Hotel ohne wesentliche Veränderung und ohne größere Unterbrechung fortführe, würde ein Betriebsübergang vorliegen, sodass die Arbeitnehmer ggf. einen Beschäftigungsanspruch gegenüber einem neuen Arbeitgeber hätten. Über den Fortgang der Dinge habe sie derzeit indessen keine Kenntnisse (Bl. 4 Rückseite d. A.).

Der Kläger hat am 06.01.2010 beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage erhoben.

Er hat die Auffassung vertreten,

die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt, da bei Zugang der Kündigung keine dringenden betrieblichen Gründe vorgelegen hätten. Auch bestünde die Möglichkeit, in anderen Betrieben weiterbeschäftigt zu werden. Im Arbeitsvertrag sei eine entsprechende Versetzungsklausel vereinbart worden.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 17.12.2009 nicht beendet wird.

Die Beklag...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge