Leitsatz (amtlich)
›1. Das Überfahren einer (vorgezogenen) Wartelinie (§ 42 Abs. 6 Nr. 2 Zeichen 341 StVO) bei Rotlicht einer Fußgängerbedarfsampel stellt auch dann keinen Rotlichtverstoß dar, wenn auf Höhe dieser Wartelinie das Zusatzschild Nr. 1012-35 ("Bei Rot hier halten") angebracht ist.
2. Ähnlich den Lückenfall-Fällen kommt aber eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten wegen eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO, und zwar in der Regel nach einer Quote von 1/4, in Betracht, denn der Kraftfahrer auf der Vorfahrtstraße muss bei Rotlicht der Fußgängerampel und zumindest einem haltenden Fahrzeug vor der Wartelinie mit einbiegenden Fahrzeugen aus der Parkplatz- oder Grundstücksausfahrt rechnen und deshalb sein Fahrverhalten hierauf einstellen.‹
Verfahrensgang
AG Berlin-Mitte (Urteil vom 02.08.1999; Aktenzeichen 105 C 305/98) |
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagten wegen eines Verkehrsunfalls vom 16. Mai 1997 auf dem K.-Damm in B. auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch.
Die Beklagte zu 1), Fahrerin und Halterin eines Pkw VW Golf, der bei der Beklagten zu 2) gegen Haftpflicht versichert war, wollte mit ihrem Pkw vom Parkplatz des Grundstücks K.-Damm ... nach links in den K.-Damm in Richtung L.-Damm, also nach Norden, einfahren. Rechts neben ihr befand sich ein Fußgängerüberweg, der durch eine Fußgängerbedarfsampel gesichert war
- die Haltlinie (Zeichen 294) befand sich aus Fahrtrichtung der Beklagten zu 1) gesehen ebenfalls rechts. Links von der Beklagten befand sich eine sogenannte vorgezogene, unterbrochene Wartelinie (Zeichen 341). Auf Höhe der vorgezogenen Wartelinie befand sich am rechten Fahrbahnrand ein Verkehrsschild mit der Aufschrift "Bei Rot hier halten". Die Fußgängerbedarfsampel zeigte Rot, mindestens ein Fahrzeug stand an der vorgezogenen Wartelinie, als die Beklagte zu 1) von der Parkplatzausfahrt langsamer als mit Schrittgeschwindigkeit auf die Fahrbahn fuhr und nach links abbog.
Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad Suzuki GS 500 E den K.-Damm in Richtung Südost zur Stadtgrenze. Er fuhr links an dem vor der vorgezogenen Wartelinie haltenden Fahrzeug vorbei, wobei streitig ist, ob er dieses auf der für ihn rechten oder linken Fahrbahnseite überholte, überfuhr die Wartelinie und kollidierte im Bereich der Parkplatzausfahrt mit dem Fahrzeug der Beklagten; zu diesem Zeitpunkt zeigte die Fußgängerbedarfsampel weiterhin rotes Licht.
Der Kläger hat seinen unfallbedingten materiellen Schaden auf insgesamt 4.578,67 DM beziffert - hierauf sind (in zweiter Instanz nunmehr unstreitig geworden) 1.500 DM gezahlt worden - und wegen der erlittenen Verletzungen hauptsächlich im Bereich des rechten Kniegelenks und Schienbeins ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 3.500 DM geltend gemacht. Die Beklagten haben unter anderem vorgetragen, ein Schmerzensgeldbetrag in Höhe von etwa 3.750 DM sei angemessen, unter Berücksichtigung des erheblichen Mitverschuldens des, Klägers sei von einer Haftungsquote von 40 % auszugehen, weshalb ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500 DM angemessen sei.
Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Urteil eine Haftung der Beklagten nach einer Quote von lediglich 40 % angenommen. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar habe die Beklagte zu 1) gegen § 10 StVO verstoßen, den Kläger treffe indes das überwiegende Verschulden, da er bei Rot die Haltlinie passiert habe, der Bereich der Parkplatzausfahrt jedoch vom Schutzbereich der Ampelanlage mitumfasst gewesen sei. Unter Berücksichtigung der Haftungsquote sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.500 DM angemessen und ausreichend.
Mit der Berufung wendet sich der Kläger gegen den Vorwurf eines Rotlichtverstoßes und meint, die Beklagte zu 1) habe den Unfall allein bzw. in überwiegendem Maße mitverschuldet.
Im Übrigen wird von der Darstellung des Tatbestandes gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist teilweise begründet und führt insoweit zu einer Änderung des angefochtenen Urteils.
Der Kläger kann von den Beklagten als Gesamtschuldnern wegen des Verkehrsunfalls vom 16. Mai 1997 in B. Ersatz seines unfallbedingten materiellen Schadens nach einer Quote von 75 % sowie unter Berücksichtigung dieser Quote ein Schmerzensgeld verlangen. Die Haftung der Beklagten zu 1) ergibt sich daraus, dass sich der Unfall bei dem Betrieb des von ihr gehaltenen und geführten Fahrzeuges ereignete, wobei sie den Unfall durch eigenes Verschulden verursachte (§ 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 des Straßenverkehrsgesetzes - im Folgenden StVG -, §§ 823, 847 BGB). Im Umfange der Haftung der Beklagten zu 1) hat die Beklagte zu 2) als Haftpflichtversicherer des Pkw VW Golf gesamtschuldnerisch einzustehen (§ 3 Nr. 1 und 2 PflVG).
Bei der gemäß § 17 Abs. 1, § 18 StVO erforderlichen Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der beiden Fahrer unter Berücksichtigung der von beiden am Verkehrsunfall beteiligten Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr sind neben feststehenden, d.h. unstreitigen oder zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände ...