Entscheidungsstichwort (Thema)
Behindertenrecht. Eingliederungshilfe. Hilfe zur Schulbildung. gehörloses Kind. Unterricht in einem Sonderpädagogischen Bildungs-und Beratungszentrum. Förderschwerpunkt Hören. keine Nutzung der Deutschen Gebärdensprache durch alle Lehrer und Lehrerinnen. kein simultanes Dolmetschen bei Unterrichtsgesprächen. Erforderlichkeit der Schulbegleitung durch Gebärdensprachdolmetscher bzw Gebärdensprachdolmetscherin. kein Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule. Sicherstellung der Teilhabe behinderter Schüler und Schülerinnen. keine Aufgabe der Mitschüler und Mitschülerinnen. etwaige Zuständigkeit des Schulträgers auch für Leistungen außerhalb des Kernbereichs pädagogischer Arbeit. Ausfallersatzfunktion der Eingliederungshilfe. sozialgerichtliches Verfahren. Eilrechtsschutz
Leitsatz (amtlich)
Der Besuch eines Sonderpädagogischen Bildungs-und Beratungszentrums mit dem Förderschwerpunkt Hören schließt die Gewährung von Eingliederungshilfeleistungen in Form eines Gebärdendolmetschers im Unterricht für ein gehörloses Kind nicht grundsätzlich aus. Denn insoweit handelt es sich nicht um eine Maßnahme, die dem Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule zuzuordnen ist.
Orientierungssatz
1. Es ist nicht Aufgabe von Mitschülern und Mitschülerinnen, die Teilhabe behinderter Menschen am Unterricht sicherzustellen.
2. Gerade auch die Teilnahme an Unterrichtsgesprächen sieht der Senat als wichtigen Teil der Teilhabe am Unterricht an. Allein die Weitergabe von Zusammenfassungen solcher Unterrichtsgespräche sichert nach Überzeugung des Senats gerade nicht eine ausreichende Teilhabe am Unterricht.
3. Ein Dolmetschen durch die Lehrer und Lehrerinnen - selbst wenn sie die Deutsche Gebärdensprache selbst gut beherrschen würden - ist schwer möglich, wenn die Lehrer und Lehrerinnen das Unterrichtsgespräch moderieren und Fragen beantworten müssen.
4. Selbst wenn Leistungen außerhalb des Kernbereichs pädagogischer Arbeit auch vom Schulträger verlangt werden könnten, ist der Eingliederungshilfeträger für eine solche Leistung zumindest so lange (nachrangig) zuständig, wie der (ggf vorrangig verpflichtete) Schulträger eine solche Leistung tatsächlich nicht erbringt (vgl BSG vom 9.12.2016 - B 8 SO 8/15 R = BSGE 122, 154 = SozR 4-3500 § 53 Nr 5).
5. Zum Eilrechtsschutz nach § 86b Abs 2 S 1 SGG.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 29. Dezember 2022 aufgehoben und der Antragsgegner verpflichtet, vorläufig bis zum Ende des Schuljahres 2022/2023, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache, Eingliederungshilfe für die Antragstellerin in Form der Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher für den Besuch der Ischule, S, im Umfang von 16 Unterrichtsstunden pro Woche zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
Streitig ist die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher für den Besuch der Ischule, S, im Umfang von 16 bis 18 Unterrichtsstunden pro Woche.
I.
Die am 2009 geborene Antragstellerin ist seit ihrer Geburt gehörlos und es wurde ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G, H und RF festgestellt. Sie lebt gemeinsam mit ihrem gehörlosen Vater, der über das alleinige Sorgerecht verfügt, dessen ebenfalls gehörloser Lebensgefährtin und deren minderjährigen Kindern in D. Ihre Muttersprache ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS), da sie zwar Hörgeräte trägt, aber Sprache nicht über das Gehör wahrnehmen kann.
Die Antragstellerin besucht seit dem Schuljahr 2018/2019 nach einem Schulbezirkswechsel die Ischule, ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit Förderschwerpunkt Hören, in S, da sie in der zuvor besuchten Schule in N die einzige Schülerin war, die ausschließlich in der DGS kommunizierte. In der neuen Schule konnte sie sich zunächst gut einleben, hatte Kontakt zu anderen Kindern, die ebenfalls gebärdenkompetent sind. Aufgrund der mangelhaften schulischen Leistungen/ kognitiven Voraussetzungen und der hieraus entstandenen Überforderungssituation wechselte die Antragstellerin zum Schuljahr 2021/2022 in die jahrgangsübergreifende Lerngruppe 5/6 BL des Bildungsgangs Lernen (Förderschule).
Die Antragstellerin beantragte am 20.07.2021 bei der Stadt R, die den Antrag an den zuständigen Antragsgegner weiterleitete, die Übernahme der Kosten für eine Schulassistenz in Form eines Gebärdensprachdolmetschers für den Besuch Schule, da sie nur durch eine Kommunikation in DGS dem Unterricht uneingeschränkt folgen und somit eine ihrer Begabung entsprechende Bildung erhalten könne.
Am 26.10.2021 ging eine Stellungnahme der Schule zu den beantragten Eingliederungsleistungen ein. Darin wurde u.a. ausgeführt, dass die Antragstellerin sich rege am Unterrichtsgeschehen beteilige. Sie werde allerdings von den Lehrern auch aufgrund mangelnder Gebärdenkompetenz di...