Entscheidungsstichwort (Thema)

Unbefristete Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Erwerbsminderung iS des § 102 Abs 2 S 5 SGB 6

 

Orientierungssatz

1. Der Ausdruck "unwahrscheinlich" iS des § 102 Abs 2 S 5 SGB 6 ist dahingehend zu verstehen, dass schwerwiegende medizinische Gründe gegen eine rechtlich relevante Besserungsaussicht sprechen müssen, sodass ein Dauerzustand vorliegt. Davon kann erst ausgegangen werden, wenn alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und auch danach ein aufgehobenes Leistungsvermögen besteht.

2. Solange die Möglichkeit besteht, das Leistungsvermögen eines Versicherten auf der Grundlage anerkannter Behandlungsmethoden wiederherzustellen, und im Einzelfall keine gesundheitsspezifischen Kontraindikationen entgegenstehen, ist von einer Unwahrscheinlichkeit der Behebung der Erwerbsminderung nicht auszugehen.

3. Die Frage, ob die Behebung unwahrscheinlich ist, ist zum Zeitpunkt der Bewilligung prognostisch zu beurteilen und unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff der umfassenden gerichtlichen Nachprüfung.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 10.11.2022; Aktenzeichen B 5 R 110/22 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. November 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Zwischen den Beteiligten ist der Beginn und die Dauer einer dem Kläger von der Beklagten gewährten Rente wegen voller Erwerbsminderung sowie dessen Anspruch auf Auszahlung einer Nachzahlung in Höhe von 16.202,77 € streitig.

Der 1950 geborene Kläger bezog gemeinsam mit seiner Ehefrau in einer Bedarfsgemeinschaft von 2007 bis zum 31.03.2010 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) von dem Beigeladenen bzw. dessen Rechtsvorgänger (im Folgenden einheitlich: Beigeladener).

Mit Bescheid vom 20.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.02.2009 lehnte die Beklagte einen Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wegen fehlender Mitwirkung des Klägers ab, da er die ihm übersandten Antragsformulare und Vordrucke nicht eingereicht hatte. Die hiergegen zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobene Klage (S 9 R 936/09) wurde mit Gerichtsbescheid vom 13.01.2010 abgewiesen.

Auf dessen Antrag vom 26.10.2009 gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 24.02.2010 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit ab dem 01.04.2010. Ab April 2010 schied der Kläger aus dem Alg II- Leistungsbezug aus, seine Ehefrau bezog ab diesem Zeitpunkt Alg II unter Anrechnung der Rente des Klägers als Einkommen; der Kläger bezog Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Nachdem der Kläger den Bescheid des Landratsamts R - Versorgungsamt - vom 11.10.2010, mit dem ab dem 01.07.2010 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt wurde, vorgelegt hatte, gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 15.03.2011 ab dem 01.04.2010 statt der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Ab dem 01.05.2011 wurden laufend monatlich 929,00 € gezahlt. Die für die Zeit vom 01.04.2010 bis 30.04.2011 errechnete Nachzahlung in Höhe von 999,44 € wurde mit Verfügung vom 25.03.2011 ausgezahlt, da pfändbare Beträge nicht vorhanden seien.

Am 24.11.2011 schlossen die Beteiligten in dem Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 13 R 611/10) wegen der Versagung der Rente wegen Erwerbsminderung einen Vergleich dahingehend, dass sich die Beklagte verpflichtete, die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 02.06.2008 zu prüfen und bei Vorliegen sämtlicher sonstiger rentenrechtlicher Voraussetzungen diese nachträglich zu erbringen.

In der Folgezeit legte der Kläger medizinische Unterlagen insbesondere über eine Unterschenkelfraktur durch einen Unfall im März 2008 vor. Der Sozialmedizinische Dienst der Beklagten A kam in einer Stellungnahme vom 29.06.2012 zu der Einschätzung, auf Grund der vorgelegten medizinischen Befunde könne rückblickend ein aufgehobenes Leistungsvermögen ab dem Unfall im März 2008 bis etwa März 2010 unterstellt werden. Danach sei eine deutliche Besserung im Hinblick auf die Unfallverletzung des Beines eingetreten.

Mit Bescheid vom 12.07.2012 gewährte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.10.2008 bis zum 31.03.2010. Die Anspruchsvoraussetzungen seien ab dem 13.03.2008 erfüllt, der Rentenanspruch zeitlich begrenzt, weil der Kläger nicht mehr voll erwerbsgemindert sei. Weiter führte sie aus, die Nachzahlung betrage 17.534,10 €, werde aber vorläufig nicht ausgezahlt.

Mit weiterem Bescheid vom 19.07.2012 stellte die Beklagte die Rente wegen voller Erwerbsminderung neu fest, da rückwirkend ab Rentenbeginn 01.10.2008 der ermäßigte Beitragssatz zur Pflegeversicherung berücksichtigt wurde. Der Nachzahlungsbetrag von 40,62 € wurde vorläufig nicht ausgezahlt.

Gegen ...

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