Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Versagungsgrund. Mitverursachung. leichtfertige Selbstgefährdung. gewalttätige Auseinandersetzung im Anschluss an eskalierten Familienstreit. Aufsuchen der Kontrahenten mit Schlagwerkzeugen. soziale Missbilligung. Missachtung des staatlichen Gewaltmonopols. Selbstjustiz. Unbeachtlichkeit möglicher abweichender kultureller oder sozialer Vorstellungen innerhalb einer Gruppe. Witwenversorgung nur bei standesamtlicher Ehe
Leitsatz (amtlich)
1. Eine leichtfertige und sozial missbilligenswerte Selbstgefährdung liegt auch dann vor, wenn das Opfer im Rahmen eines langfristigen innerfamiliären Streits (hier um das Sorgerecht über ein Kind) und nach der Beendigung einer bereits gewalttätig gewordenen Auseinandersetzung die Kontrahenten erneut aufsucht, um "dem Streit ein Ende zu machen", dabei potenzielle Schlagwerkzeuge mit sich führt und sich damit in die erneute Auseinandersetzung begibt, nachdem diese von verbalen Anwürfen zu Gewalttätigkeiten übergegangen ist.
2. Welche Verhaltensweisen sozial missbilligenswert sind, bestimmt die Rechtsordnung. Hierzu gehört das staatliche Gewaltmonopol. Es verlangt, laufende, auch innerfamiliäre Konflikte mit Hilfe der staatlichen Instanzen (hier: Jugendamt, Familiengericht, Polizei) zu beenden und nicht durch verbale oder körperliche Auseinandersetzungen. Dies gilt auch dann, wenn innerhalb der Familie oder Gruppe des Gewaltopfers möglicherweise abweichende kulturelle oder soziale Vorstellungen oder Verhaltensmuster bestehen.
Orientierungssatz
1. Für einen Ausschluss der Gewaltopferversorgung nach § 2 Abs 1 S 1 Alt 1 OEG ist (im Gegensatz zum Ausschlussgrund nach § 2 Abs 1 S 1 Alt 2 OEG) erforderlich, dass das Verhalten des Geschädigten sachlich und zeitlich unmittelbar mit der Tat zusammenhängt (hier bejaht).
2. Zwar besteht in einem sozialgerichtlichen Verfahren keine rechtliche Bindung an die Feststellungen anderer Gerichte, etwa der Strafgerichte (vgl BSG vom 25.6.1986 - 9a RVg 2/84 = BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24). Es ist vielmehr eine unabhängige Beweiswürdigung geboten. In diesem Rahmen können aber zum Beispiel die Feststellungen anderer Gerichte als Urkunden (§ 118 Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO) verwertet werden, insbesondere die darin enthaltenen Aussagen von Zeugen (vgl LSG Hamburg vom 31.5.2016 - L 3 VE 6/14).
3. Witwenrente erhält nach § 38 Abs 1 S 1 BVG nur, wer zur Zeit des Todes in zivilrechtlich wirksamer Ehe (vgl §§ 1303 ff BGB) mit dem oder der Verstorbenen verheiratet war. Besteht nur eine "Verheiratung nach Sinti-Art", reicht dies nicht aus.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 11. April 2017 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt im Berufungsverfahren von dem beklagten Land Witwenrente und Bestattungsgeld nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen des Todes ihres Ehemannes im Jahre 2012.
Die 1967 geborene Klägerin, M. W., ist deutsche Staatsangehörige und wohnt im Inland. Sie war seit 1985 mit dem 1957 geborenen G. W., dem Geschädigten und später Verstorbenen, verheiratet. Die Ehe war vor dem Standesbeamten geschlossen worden (vgl. Heiratsurkunde Nr. .../1985 des Standesamts S.-Z.). Aus der Ehe sind fünf Kinder entstanden, darunter der 1991 geborene J. D. W.. Dieser war mit der 1983 geborenen G. K. nach der Tradition der Bevölkerungsgruppe der Sinti “verheiratet„ (vgl. zu den Rechtswirkungen einer Ehe nach Sinti-Art Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 2. Februar 1993 - 2 BvR 1491/91 -, juris, Rz. 2 ff.) und hatte mit ihr einen zur Tatzeit fünf Monate alten Sohn. G. K. hatte bereits zwei Kinder aus einer früheren Ehe nach Sinti-Art mit S. B.. Die damals 10-jährige Tochter aus dieser Beziehung lebte bei ihr und J. W. in R.-N., während der Sohn bei seinem Vater bzw. den Großeltern väterlicherseits wohnte. Die Mitglieder der Familie W. mit Ausnahme des J. wohnten in K.. Die Familie B. war in S.-Z. wohnhaft.
Die Familien W./K. einer- und B. andererseits gehören der Bevölkerungsgruppe der Sinti an. Sie sind weitläufig miteinander verwandt und kannten sich seit mehreren Jahren bzw. Jahrzehnten, wobei man sich auf Familienfesten bzw. Beerdigungen traf. Zumindest bis mehrere Jahre vor der hier angeschuldigten Tat war das Verhältnis freundschaftlich, die Kinder beider Familien trafen sich und gingen bis ins Erwachsenalter miteinander aus. Jedenfalls mindestens seit 2010 hatte es aber innerfamiliäre Auseinandersetzungen wegen des Wohnorts bzw. des Umgangsrechts über die 10-jährige Tochter des S. B. und der G. K. gegeben. So hatte S. B. Ende 2011 über das Netzwerk “Facebook„ Kontakt zu seiner Tochter aufgenommen, dieser Kontakt riss aber wieder ab, wobei nicht geklärt werden konnte, ob dafür G. K. verantwortlich war. Das Jugendamt war nicht involviert und auch familiengerichtliche Verfahren wurden nach Aktenlage nicht angestrengt.
Die Vo...