Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Behauptung des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit. Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung. Anwendbarkeit des § 15 KOVVfG. Vorhandensein eigener Erinnerung. fehlende Aussagekonstanz über einen längeren Zeitraum. keine Bestätigung von Umständen in der Beweisaufnahme. Beweiswürdigung. GdS-Feststellung. psychische Störung. Voraussetzungen für einen GdS von 80. sozialgerichtliches Verfahren. Erweiterung einer zunächst beschränkt eingelegten Berufung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Beklagter als Berufungskläger kann eine eingeschränkt eingelegte Berufung während des Berufungsverfahrens bis zum vollen Umfang seiner erstinstanzlichen Verurteilung erweitern.

2. Angaben eines Antragstellers allein reichen für eine Glaubhaftmachung nicht aus, wenn nicht sicher gestellt ist, dass sie auf eigenen Erinnerungen beruhen, insbesondere wenn die Beweisaufnahme einzelne Angaben widerlegt bzw Zeugen Umstände, die sie sicher hätten bemerken müssen, nicht bestätigen, ohne dass Gründe für Falschangaben ersichtlich sind.

3. Ein Grad der Schädigungsfolgen von 80 oder mehr wegen schwerer sozialer Anpassungsschwierigkeiten setzt bemerkbare Schwierigkeiten im sozialen Zusammenleben und Einschränkungen in der Alltagskompetenz, einen weitgehenden Rückzug von sozialen Aktivitäten und in der Regel eine engmaschige psychiatrische bzw psychotherapeutische Behandlung voraus.

 

Orientierungssatz

Generell gilt, dass eher von einer - objektiv zutreffenden - Erinnerung auszugehen ist, wenn die Schilderungen über einen längeren Zeitraum konstant bleiben, während Geschehensabläufe, die sich nicht zugetragen haben, an die aber subjektiv ein Gedächtnisinhalt besteht, im Laufe der Zeit eher auszuufernd beschrieben werden (vgl LSG Mainz vom 19.8.2015 - L 4 VG 5/13 = ZFSH/SGB 2016, 261 und LSG Stuttgart vom 22.9.2016 - L 6 VG 1927/15).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 09.08.2018; Aktenzeichen B 9 V 2/18 B)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 10. November 2015 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in keinem Rechtszug zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Beklagte F. B. (Beklagter) wendet sich mit seiner Berufung gegen seine Verurteilung zur Gewährung von Versorgungsbezügen, wobei er zum einen den Beginn der Leistungen, zum anderen die Höhe des zu Grunde liegenden Grades der Schädigungsfolgen (GdS) rügt.

Der Kläger ist im Oktober 1965 geboren und bei seinen Eltern sowie mit fünf älteren Geschwistern und einem jüngeren Bruder in dem kleinen Ort T., heute Ortsteil des Marktes K. in einem Landkreis im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken aufgewachsen. Er besuchte dort Volks- und Hauptschule, die er 1981 erfolgreich abschloss. In der Folgezeit absolvierte er eine Ausbildung zum Brauer und Mälzer (1981 bis 1984) und war bis 2002 mit mehreren Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit in diesem Beruf erwerbstätig. Währenddessen begann er 1989 eine Ausbildung zum Maschinenbauer, die er 1990 ohne Abschluss wieder aufgab. 1997 oder 1998 verließ der Kläger das elterliche Haus. Im Jahre 2002 zog er aus seiner Heimatregion wegen einer Partnerschaft zu einer Frau mit drei Kindern nach Baden-Württemberg, wo er noch heute wohnt. Die Partnerschaft ging etwa im Jahre 2007 in die Brüche. Von 2003 bis 2005 ließ sich der Kläger zum Fachinformatiker umschulen. Nach längerer Arbeitslosigkeit war er von 2007 bis 2009 als Arbeiter tätig, verlor dann dort seinen Arbeitsplatz und war ab 2010 bei einem Unternehmen der Filtertechnologie als Systemtechniker - in Vollzeit - berufstätig. Seit etwa Januar 2011 ist er arbeitsunfähig erkrankt.

Der Kläger beantragte am 3. November 2011 beim Landratsamt (LRA) seines baden-württembergischen Wohnortlandkreises Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Er gab an, er sei ab etwa seinem sechsten Lebensjahr an über mehrere Jahre hinweg von seinem Onkel H. K., bereits verstorben, seinem Vater J. K., unbekannten Aufenthalts, und einem Nachbarn in dem Ort T., dessen Nachname Ho. laute, sexuell missbraucht worden. Es habe sich um Oral- und Analverkehr gegen seinen, des Klägers, Willen gehandelt. Der Missbrauch durch den Onkel habe mehrfach und über mehrere Jahre hinweg in seinem Wohnhaus in der Gemeinde D. stattgefunden, wobei zum Teil sein Vater und auch seine Tante (die spätere Zeugin L. K.) anwesend bzw. beteiligt gewesen seien. Zu Hause hätten sein Vater und der Nachbar den Missbrauch gemeinsam begangen, sie hätten im Keller des Hauses des Nachbarn Oralverkehr erzwungen und dabei Fotos gemacht. Wegen dieser Missbräuche, so der Kläger, leide er seit Jahren an einer rezidivierenden depressiven Störung und an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Der Kläger legte den Entlassungsbericht der Klinik Sch. vom 26. Oktober 2011 über einen stationären Aufenthalt vor, in dem die genannten Diagnosen zuzüglich einer koronaren Herzerkrankung aufgeführt waren und demzufolge der Kläger dor...

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