Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Tankstellenüberfall. Bedrohung mit einer Feuerzeugpistole. Erforderlichkeit einer körperlichen Einwirkung. gesetzgeberische Entscheidung
Orientierungssatz
1. Die Bedrohung einer Kassiererin mit einem pistolenähnlichen Gasfeuerzeug (hier bei einem Tankstellenüberfall) erfüllt nicht das Tatbestandsmerkmal des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG.
2. Es ist dem Gesetzgeber vorbehalten, den Begriff des tätlichen Angriffs über den mit Bedacht gewählten und bis heute beibehaltenen engen Wortsinn des OEG auf Straftaten zu erstrecken, bei denen es an einem solchen tätlichen Angriff fehlt, weil das strafbare Verhalten zB in einer Drohung mit Gewalt, Erpressung oder einer Täuschung besteht (vgl BSG vom 16.12.2014 - B 9 V 1/13 R = BSGE 118, 63 = SozR 4-3800 § 1 Nr 21).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 20. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund eines Raubüberfalls.
Sie ist 1983 geboren, hat nach der Mittlerer Reife eine Ausbildung zur staatlich geprüften gestaltungstechnischen Assistentin abgeschlossen und anschließend die Fachhochschulreife erworben. Danach war sie in Verlagen tätig (vgl. den von der Klägerin vorgelegten Lebenslauf). Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) hat ihr mit Bescheid vom 27. Mai 2015 eine befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gewährt. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 seit dem 1. Januar 2016 festgestellt (Bescheid des Landratsamtes F (LRA) vom 29. April 2015).
Am 13. April 2016 beantragte sie bei dem zuvor zuständigen Kommunalem Sozialverband S (nachfolgend einheitlich: Beklagter) die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Angegeben wurde, dass sie am 1. Februar 2003 an ihrem Arbeitsplatz, der E Tankstelle in L, überfallen worden sei. Da der Täter damals schon mehrfach vorbestraft gewesen sei, habe sie Angst, dass er etwas machen werde, wenn sie Ansprüche an ihn stelle. Er sei damals schwer gewalttätig und Alkoholiker gewesen. Sie selbst wohne nicht mehr in Leipzig, aber ihre Familie. Sie wisse nicht, in welcher psychischen Lage sich der Täter befinde und wolle kein Unheil heraufbeschwören. Sie habe trotz Therapie immer noch Angst- und Panikattacken. Weiter wurden Befundberichte über durchgeführte Behandlungen vorgelegt.
Der Beklagte zog die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Leipzig (StA - Az.: 305 Js 9946/03) bei.
In ihrer damaligen Zeugenvernehmung gab die Klägerin an, dass der Täter bei ihr an der Kasse gestanden habe, um Bier zu bezahlen. Weiter habe er eine Stange Zigaretten verlangt. Sie habe sich gebückt, um die Zigaretten aus dem Unterteil des Zigarettenregals zu nehmen. Als sie wieder aufgetaucht sei, habe sie in den Lauf einer Pistole geschaut. Der Täter habe sie aufgefordert, sich auf den Boden zu legen. Die anderen Kunden in der Tankstelle hätten nichts mitbekommen. Sie habe sich zum Täter umgesehen, dieser habe mit seiner Waffe gewinkt, die er die ganze Zeit in Höhe seiner rechten Hüfte geführt habe. Sie sei in die hinteren Räume dirigiert worden. Zu den anderen Kunden habe der Täter gesagt „wir sind gleich wieder da“. Im hinteren Vorratsraum habe er die Waffe auf ihre linke Brust gerichtet und gefragt, ob noch jemand hier hinten sei. Sie sei dann in den linken, hinteren Raum dirigiert und aufgefordert worden sich hinzusetzen. Der Täter habe gesagt, dass sie warten solle, bis er aus dem Laden raus sei. Wenn sie ihm hinterherkomme, schieße er. Den Stoffbeutel mit den Getränken und den Zigaretten habe er in seiner linken Hand gehalten. Als er den Raum verlassen habe, habe er die Pistole in seine rechte Jackenaußentasche gesteckt, die Hand aber am Griff gelassen.
Der Täter stellte sich fünf Tage später selbst der Polizei. Sichergestellt wurde ein Gasfeuerzeug in Form einer Pistole, das er nach eigenen Angaben bei dem Vorfall eingesetzt hat. Zur Tat selbst gab er an, dass er Bier, eine Flasche „Goldkrone“ und eine Stange „Marlboro“ verlangt und erhalten habe. Nachdem er alles eingepackt habe, habe er seine Feuerzeugpistole aus der Gesäßtasche geholt und diese unter dem linken Arm auf die Klägerin gerichtet. Er habe zu ihr gesagt, dass sie sich hinlegen solle. Er habe Panik bekommen, weil noch ein Mann im Laden gewesen sei. Er habe zur Klägerin gesagt, dass sie aufstehen und in den Hinterraum gehen solle. Es sei ein kleiner Raum linksseitig vom Verkaufsstand. Die Tür habe offen gestanden. Dort hätten sich drei oder vier braune Polsterstühle befunden. Sie habe sich hinsetzen sollen. Er habe die Klägerin gefragt, ob noch jemand da sei. Sie habe gesagt, dass noch jemand im Lager sei. Er habe die Pistole wieder eingesteckt und sei aus dem Verkaufsraum gerannt. Er sei auf direktem Weg nac...