Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkende Aufhebung der Arbeitslosenhilfebewilligung. fehlende Rechtsgrundlage für die Erstattung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung ab 1.1.2005. verfassungskonforme Auslegung. Bedürftigkeitsprüfung. Vermögensverwertung. verdecktes Treuhandkonto. angemessene Alterssicherung. subjektive Zweckbestimmung

 

Orientierungssatz

1. In Folge der Streichung des Wortes "Arbeitslosenhilfe" in § 335 Abs 1 S 1 SGB 3 in der ab 1.1.2005 geltenden Fassung besteht keine Rechtsgrundlage für die Rückforderung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen bei der rückwirkenden Aufhebung der Arbeitslosenhilfebewilligung mehr. Die durch die Rechtsänderung entstandene planwidrige Regelungslücke ist keiner erweiternden Auslegung oder analogen Anwendung zugänglich (vgl LSG Stuttgart vom 15.12.2006 - L 12 AL 3427/06).

2. Zur Rechtmäßigkeit der Rückforderung der Arbeitslosenhilfe wegen Vermögensanrechnung trotz behaupteter Treuhandvereinbarung.

3. Zur Zumutbarkeit der Verwertung von Kapitalvermögen mangels subjektiver Zweckbestimmung für die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 07.10.2009; Aktenzeichen B 11 AL 32/08 R)

 

Tenor

1.

Die Berufungen gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24.01.2008 werden zurückgewiesen.

2.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu einem Viertel zu erstatten.

3.

Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Rücknahme eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) im Streit.

Der ... 1940 geborene Kläger besitzt ebenso wie seine ... 1938 geborene Ehefrau die türkische Staatsangehörigkeit. Der Kläger hat sechs volljährige Kinder, darunter den inzwischen 40 Jahre alten E A. Der Kläger arbeitete vom 30.07.1973 bis zum 13.01.1994 (Eintritt der Arbeitsunfähigkeit) als Lackschleifer für die D AG in deren Werk in S. Zum 31.05.1994 schied der Kläger gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 93.800,00 DM aus seinem Arbeitsverhältnis aus.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger unter teilweiser Anrechnung der Abfindung Arbeitslosengeld ab dem 14.01.1995 und nach Erschöpfung des Anspruchs ab dem 01.10.1997 bis zum 31.03.2000 Arbeitslosenhilfe in Höhe von zuletzt 410,27 DM wöchentlich (58,61 DM täglich). In seinem Antrag auf Arbeitslosenhilfe vom 06.10.1997 hatte der Kläger bestätigt, das Merkblatt 1 der Beklagten für Arbeitslose "Ihre Rechte, Ihre Pflichten" erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Als Vermögen hat er in seinem Antrag lediglich das selbstbewohnte Wohngrundstück in der E in H angegeben.

In den Fortzahlungsanträgen vom 25.09.1998 und 15.09.1999 gab der Kläger gleichfalls das Fehlen von Vermögen und den erneuten Erhalt des Merkblattes 1 an. Arbeitslosenhilfe wurde dem Kläger bis zum 31.03.2000 bewilligt. Seit dem 01.04.2000 bezieht der Kläger eine Altersrente der Deutschen Rentenversicherung.

Das Hauptzollamt Stuttgart teilte der Beklagten im Mai 2005 mit, dass zu Gunsten des Klägers zum Zeitpunkt des Beginns des Bezugs von Arbeitslosenhilfe auf Konten der Türkischen Nationalbank (TCMB) 40.000 DM (Konto Nr. 68188, Einzahlung am 02.06.1993) und 60.000 DM (Konto Nr. 25515, Einzahlung am 12.07.1994) angelegt waren. Die Beklagte errechnete hieraus zuzüglich eines zwischenzeitlich angegebenen Sparvermögens von 1.853,08 DM ein Gesamtvermögen von 101.853,08 DM, wobei sie abzüglich zweier Freibeträge von je 8.000 DM ein anzurechnendes Vermögen des Klägers von 85.853,08 DM annahm und den Kläger dazu anhörte, dass insoweit die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe beabsichtigt sei.

Der Kläger hat sich auf das Anhörungsschreiben der Beklagten nicht gemeldet. Daraufhin nahm die Beklagte mit Bescheid vom 13.07.2005 die Bewilligung von Arbeitslosenhilfe für die Zeit vom 01.10.1997 bis zum 22.03.1999 und für die Zeit vom 23.03.1999 bis zum 31.03.2000 teilweise nach § 45 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X zurück. Gleichzeitig wurden vom Kläger die Erstattung von 20.345,64 € Arbeitslosenhilfe sowie von 5.192,58 € Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (insgesamt 25.538,22 €) verlangt. Der Kläger habe in dem Arbeitslosenhilfeantrag vom 06.10.1997 sowie in seinen Folgeanträgen vom 25.09.1998 und 15.09.1999 zumindest grob fahrlässig nicht mitgeteilt, dass er Vermögen in der Türkei habe.

Der Sohn des Klägers I A erhob am 08.09.2005 zur Niederschrift bei der Arbeitsagentur Widerspruch im Namen seines Vaters, welcher sich in der Türkei befand. Die Geldanlage in der Türkei sei nicht allein für den Kläger, sondern auch noch für zwei seiner Kinder bestimmt. Die genauen Unterlagen befänden sich beim Steuerberater, welcher zur Zeit nicht erreichbar sei, und würden nachgereicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2005 verwarf die Beklagte den Widerspruch als unzulässig, da die Widerspruchsfrist am 16.08.2005 geendet habe. Rechtfertigende Gründe für das Fristversäumnis bzw. eine Wiedereinse...

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