Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. haftungsausfüllende Kausalität. Merkblatt des Ärztlichen Sachverständigenbeirats. toxische Polyneuropathie. Lösungsmittel. Zimmermann
Leitsatz (amtlich)
Die Persistenz oder Verschlechterung einer Polyneuropathie nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel entgegen der im Merkblatt zur Berufskrankheit gem BKV Anl Nr 1317 in der Fassung der Bekanntmachung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziales im Bundesarbeitsblatt 2005, Heft 3, Seite 49 vertretenen Auffassung in aller Regel aus.
Orientierungssatz
Bei der toxischen Polyneuropathie handelt es sich grundsätzlich um ein selbstbegrenzendes Krankheitsbild. Dies bedeutet, dass nach Beendigung der Exposition - abhängig vom Schweregrad der initialen Läsion - nach einem mehr oder minder langen Intervall mit einer Remission bzw einer vollständigen Ausheilung zu rechnen ist. Diese Abfolge ist in der Regel nach zwei bis drei Jahren abgeschlossen. Das Fortschreiten des Krankheitsbildes nach Expositionsende über Monate und Jahre stellt deshalb ein wichtiges Kriterium gegen die Annahme einer schadstoffbedingten Verursachung dar.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 13. Februar 2003 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im Streit steht die Anerkennung und Entschädigung einer Polyneuropathie (PNP) als Berufskrankheit (BK) nach den Nrn. 1302, 1310 oder 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
Der 1931 geborene Kläger übte ab 1950 bei der Zimmerei G. und Z. GmbH & Co. KG eine Tätigkeit als Zimmermann bzw. Rolladen- und Jalousienbaumeister aus. Ab 1. November 1992 bezog er Rente wegen Berufsunfähigkeit, seit 1. September 1994 bezieht er Altersrente.
Am 22. Mai 1995 ging die ärztliche Anzeige über das Vorliegen einer BK des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. D. vom 18. Mai 1995 bei der Beklagten ein. Darin war ausgeführt, dass der Kläger seit 23. April 1993 nicht mehr arbeite und über eine Gefühllosigkeit beider Füße und Fußheberschwäche rechts geklagt habe, die 1990 erstmals aufgetreten seien. Der Kläger führe diese Beschwerden auf Kontakt mit Holzschutzmitteln zurück. Das Vorliegen einer BK nach Nr. 1310 der Anlage 1 zur BKVO (Erkrankung durch halogenierte Aryloxide [Pentachlorphenol]) werde angenommen und auf das Versprühen von Holzschutzmitteln zurückgeführt. Der Anzeige beigefügt waren die Arztbriefe der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 17. Juni 1993 (“... seit ca. einem halben Jahr zunehmend Lähmung des rechten Fußes bemerkt...„), des PD Dr. M.-W., Diakoniekrankenhaus S. H., vom 24. August 1993 (Diagnose: PNP, überwiegend motorisch, mit Fußheber- und Zehenheberparese beidseits unklarer Genese, Verdacht auf Neuroborreliose Stadium III, Suralisbiopsie am 22. Juli 1993, Ulcus ventrikuli), des Urologen Dr. S. vom 9. November 1993 mit Laborbefunden in Anlage (Untersuchung des Bluts auf neurotoxische Substanzen aus Holzschutzmitteln ohne einschlägigen Befund) sowie der Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes, Dipl.-Ing. S., vom 26. September 1994, in dem zusammenfassend aufgeführt war, dass der Kläger praktisch sein ganzes Berufsleben mit unterschiedlichen Gefahrstoffen (organische Lösungsmittel, Wirkstoffe von Holzschutzmitteln) in Kontakt gekommen sei. Beigefügt war der Analysebericht 94 vom 9. November 1994 über eine Expositionsmessung in der Maler- und Lackiererei des Beschäftigungsbetriebs.
Die Beklagte zog von der Krankenkasse das Vorerkrankungsverzeichnis sowie ärztliche Unterlagen aus Verfahren um die Anerkennung einer Asbestose als BK bei, ebenso die Unterlagen von der früheren Landesversicherungsanstalt Württemberg im Verfahren um die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit, die u.a. den Bericht der Neurologischen Universitätsklinik und Poliklinik im K. Klinikum, W., Prof. Dr. T., vom 16. Januar 1995 (nach stationärem Aufenthalt des Klägers vom 4. - 13.10.1994) enthielten. Der Kläger sei vorgestellt worden, um einen Zusammenhang der seit etwa 2 Jahren bestehenden polyneuropathischen Beschwerden mit der beruflichen Holzschutzmittelexposition und Asbest-Exposition als Zimmermann abzuklären. Zusammenfassend kam Prof. Dr. T. zum Schluss, es handle sich um eine vorwiegend axonale, beinbetonte sensomotorische PNP unklarer Ätiologie.
Unter dem 13. Juni 1995 zeigte der ehemalige Beschäftigungsbetrieb das Vorliegen einer BK an.
Die Beklagte zog ferner den Arztbrief von Oberarzt Dr. M. vom 01.08.1995 über eine weitere, vom 22. März 1995 - 11.April 1995 durchgeführte stationäre Heilbehandlungsmaßnahme in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums W. bei. Darin wurde u.a. ausgeführt, dass sich klinisch wie elektrophysiologisch, verglichen mit dem Zustand 1994, ein nahezu stabiles Krankheitsbild einer axonalen sensomotorischen PNP gefun...