Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Betrieb von Toilettenanlagen. selbstständige Betriebsabteilung. Gebäudereinigungsleistung. Anwendung der Tarifverträge für das Gebäudereinigerhandwerk einschließlich der Bestimmungen über den Mindestlohn. Erhebung von Säumniszuschlägen. bedingter Vorsatz. sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung des rechtlichen Gehörs. keine Möglichkeit der Beklagten zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wegen Nichterhalt der Terminbenachrichtigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Betrieb von Toilettenanlagen kann eine selbstständige Betriebsabteilung eines Unternehmens, das Ticketsysteme (Drehkreuzautomaten) und Hygienekonzepte für öffentliche und private Betreiber anbietet, darstellen.

2. Erbringt diese Betriebsabteilung bzw die ihr zuzuordnenden Beschäftigten überwiegend Gebäudereinigungsleistungen oder damit zusammenhängende Leistungen, so ist der Anwendungsbereich der Tarifverträge für das Gebäudereinigerhandwerk, einschließlich der Bestimmungen über den Mindestlohn, eröffnet.

3. Für die Erhebung von Säumniszuschlägen genügt bedingter Vorsatz, der dann zu bejahen ist, wenn der Geschäftsführer der Beitragspflichtigen in Kenntnis der Tatsache, dass möglicherweise tarifliche Regelungen eingreifen könnten, darauf verzichtet, weiteren Rat fachkundiger Stellen einzuholen.

 

Orientierungssatz

Das Gebot des rechtlichen Gehörs erfordert, dass den Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen gegeben werden muss, dies vor allem in der mündlichen Verhandlung (vgl BSG vom 19.03.1991 - 2 RU 28/90 = SozR 3-1500 § 62 Nr 5 und vom 22.08.2000 - B 2 U 15/00 R = SozR 3-1500 § 128 Nr 14). Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten die Möglichkeit haben, daran teilzunehmen. Es kann nicht regelmäßig allein aufgrund des bloßen Absendens einer Terminmitteilung gefolgert werden, dass dieses Schreiben den Beteiligten auch erreicht hat.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 16.11.2023; Aktenzeichen B 12 BA 21/23 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12. Dezember 2017 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird endgültig auf 62.966,71 € festgesetzt.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin für den Zeitraum 01.01.2011 bis zum 30.09.2012 verpflichtet war, bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern den Mindestlohn nach dem allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohntarifvertrag für gewerblich Beschäftigte in der Gebäudereinigung zu zahlen und sich hieraus eine Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung nebst Säumniszuschlägen in Höhe von insgesamt 62.966,71 € ergibt.

Die Klägerin führt ein Unternehmen, dessen Zweck u.a. die Konzeption, Planung und Lieferung von Ticketingsystemen für öffentliche und private Betreiber solcher Systeme ist. Sie ist daneben auf weiteren Geschäftsfeldern tätig, nämlich im Bereich Vertrieb und Montage von Sonnenschutz, Rollläden und Markisen. Zum Tätigkeitsspektrum im Zusammenhang mit dem „Ticketbereich“ zählen sowohl Planung und Realisierung von Gesamtsystemen als auch der Verkauf von Komponenten für solche Systeme. Eingeschlossen sind Lieferung, Montage, Inbetriebnahme und sonstige Dienstleistungen für Ticketingsysteme und Vermittlung von Industrieprodukten. Im Rahmen der Ticketing-Systeme vertreibt die Klägerin Drehkreuzautomaten, nimmt deren Bestückung mit Ticketrollen vor und wartet sie. Daneben vertreibt und bestückt sie Handtuch-, Toilettenpapier- und Seifenspender und wartet diese. Darüber hinaus hat sie Toilettenanlagen (hauptsächlich in Rasthöfen, teilweise in Gastronomiebetrieben) betrieben. Ein Werbetext auf der Internetseite der Klägerin lautete im streitgegenständlichen Zeitraum wie folgt: „Sie haben keinen Aufwand mehr mit der Pflege und Unterhaltung der Sanitäranlagen. Positives Image durch saubere, gepflegte Toiletten und zufriedene Kunden. Wir stellen das Personal, 365 Tage im Jahr. Reinigungsfrequenz je nach Besucherzahl und Tageszeit.“ Die Klägerin hat nach eigenen Angaben zwischenzeitlich alle von ihr im Rahmen des Betriebs der Toilettenanlagen beschäftigten Arbeitnehmer entlassen und diesen Geschäftsbereich vollständig aufgegeben.

Ausweislich der mit den jeweiligen Auftraggebern geschlossenen Verträge (vornehmlich Rastanlagen in Bayern) war Vertragsgegenstand jeweils ein „Hygienekonzept“, das mehrere Positionen umfasste, so die Lieferung von Spendersystemen der Firma G und deren Befüllungen mit Schaumseife, Handtuchpapier, Toilettenpapier, WC-Sitz- und Wickeltischdesinfektion, Duft, Müllboxen inkl. Müllbeutel für Handtuchpapier (Position 1), die Zurverfügungstellung von Dosieranlagen für Reinigungschemie inkl. deren Nachfüllung mit Sanitär,-, Allzweck-, Glas-, Boden- und Desinfektionsreiniger (Position 2), Dienstleistungen für bestimmte Zeiträume oder rund-um-die-Uhr durch ausg...

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