Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Familienversicherung ohne Altersgrenze. Vorliegen einer Sucht- und psychischen Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
Auch Suchterkrankungen können Behinderungen iS von § 10 Abs 2 Nr 4 SGB V sein und zusammen mit dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung zu einer Familienversicherung ohne Altersgrenze führen.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 19.03.2014 und der Bescheid der Beklagten vom 21.10.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.03.2012 aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger in der Zeit vom 01.01. bis 03.10.2005, 01.08.2006 bis 31.10.2007, 18.12.2007 bis 30.04.2010 und ab 27.07.2010 über die Versicherung der Beigeladenen bei der Beklagten familienversichert ist.
Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Durchführung einer Familienversicherung ohne Altersbegrenzung nach § 10 Abs 2 Nr 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).
Der am … 1982 geborene Kläger begann nach dem Selbstmord seines Vaters 1995 Drogen zu konsumieren. Er brach die Hauptschule mit 16 Jahren ohne Abschluss ab. Wegen Diebstählen und Einbrüchen war er in der Folge in mehreren Jugendanstalten und in Haft. Die Mutter des Klägers (Beigeladene) regte im Januar 2001 beim Amtsgericht F., Vormundschaftsgericht, eine Betreuung des Klägers wegen Drogensucht und Psychose an. Vom 12.03. bis 01.07.2002 wurde der Kläger stationär in der Universitätsklinik F. behandelt wegen einer drogeninduzierten psychischen Störung, DD paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Seit Februar 2003 steht der Kläger unter Betreuung. Eine erneute stationäre Behandlung in der Universitätsklinik F. wegen paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie erfolgte vom 27.07. bis 04.10.2005, nachdem der damalige Betreuer bereits die Genehmigung zur Unterbringung des Klägers zur Heilbehandlung beantragt hatte und dies mit Gutachten von Dr. M. vom 05.07.2005 für erforderlich gehalten worden war. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 ist seit 01.03.2002 anerkannt, seit 01.05.2008 ein GdB von 90 und seit 25.01.2011 ein GdB von 100 mit den Merkzeichen G, B und H.
Der Kläger war bis 16.01.2002 familienversichert, anschließend wurde er in der Krankenversicherung der Rentner geführt wegen des Bezugs einer Halbwaisenrente. Vom 01.01 bis 03.10.2005, 01.08. bis 31.10.2007 und 18.12.2007 bis 30.04.2010 bezog der Kläger Arbeitslosengeld II. Vom 01.05.2010 bis 26.07.2010 war er als Antragsteller auf Erwerbsminderungsrente krankenversichert. Mit Bescheid vom 22.06.2010 lehnte die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg den Rentenantrag ab. Der Kläger sei zwar seit 12.03.2002 voll erwerbsgemindert, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien jedoch nicht erfüllt. Seit 27.07.2010 ist der Kläger freiwillig krankenversichert.
Mit Schreiben vom 17.10.2011 beantragte die Betreuerin des Klägers die Feststellung der Familienversicherung ohne Altersbegrenzung und legte den Bescheid der Familienkasse F. vom 11.04.2011 vor, wonach ab Oktober 2008 für den Kläger Kindergeld gewährt wurde sowie Bescheide über die bestehende Schwerbehinderung.
Mit Bescheid vom 21.10.2011 teilte die Beklagte der Betreuerin mit, dass die Voraussetzungen für die Durchführung der Familienversicherung ohne Altersbegrenzung nicht vorlägen, da bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres keine Behinderung vorgelegen habe. Außerdem schließe der Bezug von Arbeitslosengeld II eine Familienversicherung nach § 10 Abs 1 Nr 4 SGB V aus, da Arbeitslosengeld II nur an Personen gezahlt werde, die erwerbsfähig seien.
Den Widerspruch der Betreuerin des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2012 zurück. Der Kläger sei bis 16.01.2002 familienversichert gewesen. Eine eventuelle Behinderung liege erst ab 01.03.2002 vor. Es habe somit zu keinem Zeitpunkt zugleich eine Familienversicherung und eine Behinderung bestanden. Zudem bedeute der Schwerbehindertenausweis nicht zugleich das Fehlen der Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten.
Hiergegen richtet sich die am 29.03.2012 zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhobene Klage. Zur Begründung wird ausgeführt, der Bezug von Leistungen nach dem SGB II schließe eine behinderungsbedingte Unfähigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, nicht aus. Zeiten kurzfristiger Beschäftigung oder Bezugs von SGB II seien lediglich geeignet, eine Unterbrechung der Familienversicherung herbeizuführen, nicht jedoch deren Voraussetzungen zum Wegfall zu bringen. Der Krankheitsverlauf des Klägers lasse nicht zu, den Zeitpunkt, ab welchem eine behinderungsbedingte Erwerbsminderung vorgelegen habe, auf den 01.03.2002 zu datieren. Aus einem nervenärztlichen Gutachten von Dr. P. zur Einrichtung der Betreuung vom 07.02.2003 ergebe sich, dass der Kläger unter Schizophrenie mit aufgehobener Steuerungsfähigkeit leide. Die Symptome hätten mit einer LSD-Einnahme im Alter von 17 Jahren begonnen. Ergänzend hat die Betreuer...