Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Gesundheitsschaden: dissoziative Bewegungsstörung. haftungsbegründende Kausalität. wesentliche Bedingung. Wahrscheinlichkeit. tätlicher Überfall. kurze Dauer. leichte Verletzung. Platzwunde am Jochbein und Schädel-Hirn-Trauma I°
Leitsatz (amtlich)
Eine dissoziative Bewegungsstörung ist nur dann hinreichend wahrscheinlich auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen, wenn dieser tatsächlich ein dramatisches Ereignis darstellt. Kommt es bei einem Angriff nur zu einem kurzen Handgemenge, welches das Opfer nach kurzer Zeit durch Flucht beenden kann und erleidet es lediglich leichte Verletzungen (hier: Platzwunde am Jochbein und Schädel-Hirn-Trauma I°), ist dies nicht der Fall.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 02.11.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalls vom 27.10.2009 im Streit.
Der 1968 geborene Kläger war als Verkaufsleiter bei der R & J GmbH - einem M-B-Autohaus - in der B-Straße in E versicherungspflichtig beschäftigt. Am Morgen des 27.10.2009 befand er sich gegen 7 Uhr auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, als er auf dem Firmenparkplatz, auf dem er sein Kfz abgestellt hatte, nach dem Abschließen des Kfz von einem Unbekannten angegriffen wurde. Laut den eigenen Angaben des Klägers im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung wollte sich der Angreifer vermutlich in den Besitz des Autoschlüssels des Klägers bringen, da er mehrmals „Schlüssel“ rief. Es kam zu einem Handgemenge, aus dem sich der Kläger nach kurzer Zeit lösen und - ohne Herausgabe des Schlüssels - in das Autohaus flüchten konnte. Der Angreifer entkam unerkannt und konnte auch nicht ermittelt werden. Zum genauen Tathergang wird auf die polizeiliche Vernehmung des Klägers (Bl. 134 ff. VA) Bezug genommen. Seit dem 01.02.2011 bezieht er eine - zwischenzeitlich unbefristete - Rente wegen voller Erwerbsminderung seitens der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (Bl. 498 ff. VA und Bl. 36 Senatsakte L 10 U 799/15).
Der Kläger stellte sich daraufhin bei dem Durchgangsarzt (D-Arzt) W vor, der ein Schädelhirntrauma (SHT) I°, eine Platzwunde am Jochbein und eine Gehirnerschütterung diagnostizierte (Bl. 11 VA, Befund: wach, kreislaufstabil, vollständig orientiert, keine Amnesie, Übelkeit, einmaliges Erbrechen, Kopfschmerz, keine peripheren neurologischen Defizite, Pupillen rund, isocor und mit regelrechter und prompter Licht- und Konvergenzreaktion, keine Doppelbilder, NAP frei, Gesichtssensibilität intakt, Orbitaränder und Jochbogen ohne Anhalt für knöcherne Verletzung, oberflächliche Schürfwunde über rechtem Jochbein, kein Kalottendruck- oder -klopfschmerz, Kopf frei beweglich, kein DS entlang der HWS, DS über distalen MC-IV und MC-V links bei intaktem Hautmantel, Faustschluss möglich, kein Rotations-/Verkürzungsfehler, periphere Durchblutung, Motorik, Sensibilität intakt). Der Kläger wurde sodann bis zum 31.10.2009 stationär in der Klinik für Unfallchirurgie des H-Klinikums E behandelt (Bl. 6 f. VA, Entlassdiagnosen: SHT I°, Platzwunde rechtes Jochbein, Hypertonie). Eine am 19.11.2009 durchgeführte MRT des Schädels ergab einen unauffälligen Befund (Bl. 66 VA). Die Beklagte wertete den Überfall als Arbeitsunfall und zahlte dem Kläger (zunächst) Verletztengeld (s. Bl. 675 f. VA). Der Kläger nahm seither keinerlei berufliche Tätigkeit mehr auf (s. u.a. Bl. 90 SG-Akte).
Im Rahmen von Verlaufskontrollen am 16.12.2009 (Bl. 42 f. VA) und 07.01.2010 (Bl. 75 f. VA) klagte der Kläger über Schwindel. S diagnostizierte daraufhin einen Zustand nach (Z.n.) Schädelprellung, einen Verdacht auf (V.a.) Commotio cerebri und einen V.a. Schwindel zentralen Ursprungs. Am 15.01.2010 stellte sich der Kläger wegen anhaltender Schwindelbeschwerden mit Gangunsicherheit in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde des Universitätsklinikums T vor (Bl. 78 VA). Dort wurde ein Schwindel, ein SHT und ein Vestibularisausfall diagnostiziert. Im Rahmen einer neurologischen Untersuchung am 19.01.2010 wurde sowohl ein zentral-vestibulärer Schwindel, eine Dissektion der Carotiden, eine Wurzelkompression der HWS und eine Commotio cerebri ausgeschlossen und lediglich eine Schädelprellung diagnostiziert (Bl. 94 ff. VA). Aufgrund der durch den Schwindel verursachten Mobilitätseinschränkung verordnete der S dem Kläger Ende Januar 2010 einen Rollator (Bl. 106 und 116 VA). Vom 05.02.2010 bis 12.02.2010 wurde der Kläger zur weiteren Abklärung einer neurologischen Symptomatik mit Schwindel, Gangunsicherheit, neuropsychologischen Ausfällen und Zittern in der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikum T untersucht. Weder die dort am 05.02.2010 erneut durchgeführte craniale MRT, noch eine Liquorpunktion ergaben einen auffälligen Befund. Es wurde eine dissoziative Bewegungsstörung sowie ein Vestibularisausfall links d...