Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Angriff im Ausland. Terroranschlag während eines Urlaubs in der Türkei. Versagung der Entschädigung wegen Nichtbeachtung der Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amts. Sicherheitswarnung vor Menschenansammlungen und besonders gefährdete Orte. Nachrangigkeit der deutschen Opferentschädigung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Opferentschädigung für Angriffe im Ausland resultiert nur aus der allg staatlichen Fürsorgepflicht, was sich in Leistungspflicht und -umfang niederschlägt.

2. Eine Entschädigung ist dann unbillig und ausgeschlossen, wenn sich das Opfer über allgemeine Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes hinwegsetzt und ein erhöhtes Risiko eingeht, was auch Ausdruck der allgemeinen Schadensminderungspflicht ist.

 

Orientierungssatz

Die Türkei verfügt über ein staatliches Entschädigungssystem (Gesetz Nr 5233), sodass die Leistungen nach dem OEG für Terroranschläge in der Türkei nachrangig sind (vgl § 3a Abs 4 S 2 OEG).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 28. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (OEG) nach einem Terroranschlag in der Türkei, bei dem sie sich unter anderem multiple Schnittverletzungen zuzog.

Sie ist 1984 in der Türkei geboren, deutsche Staatsangehörige, geschieden und hat ein Kind. Zuletzt war sie bei der Verkehrsüberwachung beschäftigt.

Während eines Erholungsurlaubes mit ihrer Cousine und einer Freundin in Istanbul verbrachte sie den Silvesterabend 2016/2017 im Club R., einem der bekanntesten Nachtclubs, auf der europäischen Seite von Istanbul, in dem es in der Nacht um etwa 1:15 Uhr Ortszeit vom Islamitischen Staat (IS) zu einem terroristischen Anschlag kam, bei dem von einem bewaffneten Täter aus Usbekistan, der illegal in die Türkei eingereist war, 37 Menschen getötet wurden (https://de.wikipedia.org/wiki/Terroranschlag_in_istanbul_am_1_Januar_2017; abgerufen am 18. Februar 2021).

Am 27. November 2017 beantragte sie beim Landratsamt A.-D.-Kreis (LRA) die Gewährung von Versorgung nach dem OEG. Vorgelegt wurden die ärztlichen Atteste des Orthopäden Dr. H. vom 22. Februar 2017, der multiple Schnitt- und Fremdkörperverletzungen an den Kniegelenken und beiden Unterschenkeln beschrieb, sowie des Allgemeinmediziners Dr. S., der auf eine Posttraumatische Belastungsstörung und eine depressive Entwicklung infolge des Anschlags verwies.

Das LRA zog Unterlagen des Bundesamts für Justiz bei, welches der Klägerin mit Bescheid vom 21. März 2017 aus den Mitteln, die der Deutsche Bundestag im Rahmen des Bundeshaushaltes 2017 für Opfer terroristischer Straftaten bereitgestellt hatte, eine pauschale Härteleistung in Höhe von 5.000 € gewährt hatte. Mit der Gewährung dieser Härteleistung wollte die Bundesrepublik Deutschland ein Zeichen für die Ächtung des Terrorismus setzen und zugleich Solidarität mit den Opfern bekunden.

Im dortigen Antrag beschrieb die Klägerin, dass sie zu dem Anschlagszeitpunkt weiter hinten gewesen seien. Nach den Schüssen hätten sie sich sofort auf den Boden gelegt, als sich die Menge Richtung Terrasse bewegt habe, sei sie mit den Menschen durch eine Terrassentür herausgekrochen, von der Terrasse sei sie später von Sicherheitskräften gerettet worden. Vor der Tür hätten Scherben und Gläser gelegen, an denen sie sich verletzt habe. Im Krankenhaus seien die Schnittwunden an beiden Knien geklammert sowie Scherben und Splitter aus den Händen entfernt worden, sie stünde nach ihrer Rückkehr noch weiter in ärztlicher Behandlung.

Auf Anfrage des LRA übersandte das Auswärtige Amt die Reise- und Sicherheitshinweise für die Türkei mit Stand 28. Dezember 2016 und teilte ergänzend mit, dass diese bis zur Aktualisierung am 1. Januar 2017 um 3:22 Uhr gültig gewesen seien. Dieses hatte unter „Aktuelle Hinweise" unter anderem folgenden Text veröffentlicht:

"In der Türkei ist es, insbesondere seit Mitte 2015, wiederholt zu terroristischen Anschlägen gekommen. Es ist nicht auszuschließen, dass terroristische Gruppen auch weiterhin versuchen werden, Anschläge, insbesondere in den großen Metropolen, durchzuführen. Diese können sich auch gezielt gegen Ausländer richten. Reisende sollten besonders aufmerksam sein und Menschenansammlungen und Orte, an denen sich regelmäßig viele Ausländer aufhalten, möglichst meiden. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen und Feierlichkeiten an Silvester und Neujahr sollte verantwortungsvoll geprüft werden...

Reisenden wird zu besonderer Wachsamkeit und Vorsicht geraten und empfohlen, sich über Medien und diese Reise- und Sicherheitshinweise zur weiteren Lageentwicklung informiert zu halten sowie engen Kontakt mit ihrem Reiseveranstalter oder ihrer Fluglinie zu halten..."

Unter „Landesspezifische Sicherheitshinweise, Terrorismus" hieß es in den Reise- un...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge