Entscheidungsstichwort (Thema)
Opferentschädigung bei fraglicher Kausalität
Leitsatz (amtlich)
1. Es verbleibt beim Beweismaßstab des Vollbeweises auch wenn ein im Verwaltungsverfahren gehörter Zeuge sich im Klageverfahren auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft.
2. Zeitnah zum angeschuldigten Ereignis erstellte ärztliche Befunde, insbesondere solche nach stationärer Behandlung, die keine Hinweise auf Gesundheitserstschäden aufgrund der behaupteten tätlichen Angriffe enthalten, sind ein starkes Indiz dafür, dass solche Gesundheitsschäden nicht eingetreten sind.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 3, § 10 Abs. 2, § 10a Abs. 1 S. 1; BVG § 1 Abs. 3 S. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 3, § 30 Abs. 1 Sätze 1-2, § 31 Abs. 1-2; KOVVfG § 15 S. 1; VersMedV § 2 Anl. Teil C Nr. 1, § 2 Anl. Teil C Nr. 2, § 2 Anl. Teil C Nr. 3; SGG V § 27 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 3; StGB §§ 176, 176a; SGG § 54 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 4, §§ 95, 118 Abs. 1, § 128 Abs. 1 S. 1; ZPO § 415
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29. April 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund behaupteter Übergriffe ihres am 29. Oktober 2005 verstorbenen Vaters seit ihrem sechsten Lebensjahr.
Sie ist 1982 geboren. Ab dem Schuljahr 1989/1990 hat sie die allgemeinbildende polytechnische Oberschule besucht und nach der 10. Klasse die Berufsschule. Nach Abschluss der mittleren Reife 2003 hat sie eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen und war seitdem in häufig wechselnden Anstellungsverhältnissen als Sachbearbeiterin tätig (vgl. Schulzeugnisse und Rehabilitationsentlassungsbericht A1 Gesundheitszentrum).
Am 20. November 2019 beantragte sie bei dem Landratsamt R2 (LRA) die Gewährung von Beschädigtenversorgung, welches den Antrag an das seinerzeit zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales B3 (nachfolgend einheitlich: Beklagter) abgab. Geltend gemacht wurde, dass sie von ihrem am 29. Oktober 2005 verstorbenen Vater regelmäßig Prügel, Schläge und Verletzungen zugefügt bekommen habe. Er habe sie sexuell belästigt und eingeschüchtert. In ihrer Freizeit habe er ihr nachgestellt und sie beobachtet. Er habe sie mit harten Gegenständen geschlagen. Eine Strafanzeige habe sie aus Angst vor noch mehr Gewalttaten nicht erstattet.
Mit dem Antrag legte die Klägerin den Entlassungsbericht des A1 Gesundheitszentrums L1 über die stationäre Rehabilitation vom 21. Mai bis 18. Juli 2016 vor. Darin wurden als Diagnosen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine mittelgradige depressive Episode bei ängstlich vermeidender Persönlichkeitsakzentuierung und ein Gilles de la Tourette-Syndrom beschrieben. Dort gab die Klägerin an, schon seit ihrer Kindheit ein schlechtes Selbstwertgefühl zu haben, sie sei durch ihren Vater und andere Kinder eingeschüchtert gewesen. Der Schlaf sei gut, aber sie habe häufig Albträume, zum Beispiel über ihren Vater. Ihr Vater sei 2005 an Krebs verstorben, ihre Mutter habe in der Vergangenheit vermehrt Alkohol konsumiert.
Sie sei seit acht Jahren mit einem 43-jährigen Selbstständigen zusammen, in der Partnerschaft sei sie glücklich. Sie lebe mit ihrem Partner im Haus der Schwiegereltern, mit der Wohnsituation sei sie unzufrieden. Zu einer Freundin, der Mutter und dem Partner habe sie eine vertrauensvolle Beziehung. Sie verfüge über einen Freundeskreis, habe aber oft keine Lust wegzugehen. Sie verbringe die meiste Zeit zu Hause mit ihrem Partner oder auch mal mit Freunden. Manchmal gehe sie Fahrrad fahren. Als positive Ressourcen wurden eine stabile Partnerschaft und eine gute Beziehung zur Mutter beschrieben.
Die Symptomatik des Tourette-Syndroms sei erstmals im Alter von acht Jahren aufgetreten. Daraufhin habe das Mobbing durch die Mitschüler begonnen, weshalb sich die Klägerin sozial zurückgezogen habe. Im Alter von neun Jahren sei sie drei Monate und im Alter von 12 Jahren ebenfalls drei Monate in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stationär wegen Ängsten und depressiven Symptomen behandelt worden. Die Klägerin sehe die Ursache ihrer Beschwerden in einem „Kindheitstrauma“, dem Tourette-Syndrom und ihrem geringen Selbstwertgefühl.
Die Klägerin habe die Beziehung zu ihren Eltern als schwierig beschrieben. Ihr Vater sei ein cholerischer, lauter und gewalttätiger Mensch gewesen, die Mutter fürsorglich und liebevoll. Es habe ständig körperliche Gewalt und gelegentlich sexuelle Übergriffe in der Familie gegeben. In der Kindheit und Jugend habe sie Schwierigkeiten mit Ängsten, Wutausbrüchen, Schüchternheit, Erröten, Bettnässen, Stammeln und Stottern gehabt, sei in der Schule ausgegrenzt und gehänselt worden. Es hätten Leistungsprobleme und Probleme mit der Aufmerksamkeit wie der Konzentration bestanden.
Das äußere Erscheinungsbild sei altersentsprechend und gepflegt. Im Kontakt sei die Klägerin fr...