Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Schläge der Eltern. elterliches Züchtigungsrecht. behaupteter sexueller Missbrauch in der Kindheit. ursächlicher Zusammenhang mit Gesundheitsstörung. erhebliche familiäre Vorbelastung. Drogenmissbrauch. unsteter Lebenswandel. sozialgerichtliches Verfahren. Beiziehung von Akten über Dritte. Erforderlichkeit der datenschutzrechtlichen Einwilligung. Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens nur bei fehlender Sachkunde des Gerichts. Rechtswidriger tätlicher Angriff. Feindselige Willensrichtung. Nachweis. Beweiserleichterung. Aussagetüchtigkeit. Glaubhaftigkeitsgutachten

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Beiziehung der Akten Dritter oder die Einholung von Behördenauskünften über Dritte bedarf der Einwilligung des Dritten nach § 4a BDSG, sie ist nicht durch die Aufklärungspflicht des Vorsitzenden nach § 106 Abs 3 SGG umfasst, vielmehr ist insoweit ein Zeugnisverweigerungsrecht ebenso zu beachten wie die ärztliche Schweigepflicht.

2. Die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens kommt nur in besonderen Ausnahmefällen in Betracht, nämlich wenn dem Gericht die Sachkunde für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit fehlt, nicht hingegen wenn die Aussagetüchtigkeit ärztlicherseits bestätigt wird.

3. Bis zur Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts im November 2000 können elterliche Schläge nicht grundsätzlich als "rechtswidrig" eingestuft werden. Notwendig ist vielmehr die Abgrenzung zur maßvollen körperlichen Züchtigung und eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigen.

4. Eine psychische Gesundheitsstörung kann dann nicht gesichert auf die vorgetragenen Schädigungen zurückgeführt werden, wenn eine erhebliche familiäre Vorbelastung besteht, weiterhin langjähriger Drogenmissbrauch, Halluzinationen durch exzessives Meditieren, eine schillernde Aussteigervergangenheit sowie eine spätestens 1997 gescheiterte Berufsbiografie mit wechselnden Tätigkeitsfeldern (insbesondere im künstlerischen und sozialen Bereich) vorliegen, die ebenfalls bei der Ausprägung psychischer Erkrankungen eine maßgebende Rolle gespielt haben können.

 

Orientierungssatz

Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit sind mit Vorsicht zu betrachten, wenn sie erst nach einer Traumatherapie konkret geschildert werden und das vermeintliche Missbrauchsopfer im Verlauf von äußerst vagen und unpräzisen Darstellungen immer neue Episoden erzählt und immer neue Personen belastet.

 

Normenkette

OEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 3; KOVVfG § 15; BGB § 1631 Abs. 2; BDSG § 4 Abs. 1, § 4a Abs. 1; SGG § 106 Abs. 3, § 128 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 14. März 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Instanzen sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Schädigung bis zum 17. Lebensjahr in der Familie der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.

Die am ... März 1965 geborene Klägerin wuchs als dritte von insgesamt vier Geschwistern einer deutsch-dänischen Ehe in Hamburg auf, wo sie acht Jahre die Schule besuchte. Ihre Kindheit empfand sie aufgrund der Erkrankung ihrer Mutter, die zeitlebens ständig Psychopharmaka einnehmen musste, als traumatisierend (vgl. zum Folgenden: Anamnese des Gutachtens des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B.). Sie verzog dann knapp sechzehnjährig nach Nürnberg, lebte dort drei Monate in einer anarchistischen Kommune, anschließend auf einer Schaffarm und zog schließlich nach Dänemark, wo sie ihr Abitur nachholte. Danach absolvierte sie in Deutschland eine dreijährige Ausbildung zur Holzbildhauerin, hielt sich anschließend ein Jahr in Indien auf, kehrte nach Amsterdam zu einem Kunststudium zurück, wo sie eigenen Angaben zufolge erstmals für drei Jahre Drogen konsumierte, versuchte es dann in Portugal mit “Kost und Logis„, von dort ging sie nach Norwegen ohne sich zu stabilisieren und kehrte schließlich im September 1995 nach Hamburg zurück, wo sie u. a. als Altenpflegerin tätig war. Seit 1997 ist sie als erwerbsunfähig frühberentet. Mit Bescheid vom 4. Juli 2005 stellte der Beklagte die Schwerbehinderteneigenschaft seit 21. Februar 2005 aufgrund der Funktionsbeeinträchtigungen Persönlichkeitsstörung und Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) fest.

Vom 23. August bis 10. Oktober 1996 musste sie sich erstmalig in stationäre psychiatrische Behandlung begeben, nachdem sie im Rahmen eines Yoga- und Meditationsseminars von insgesamt drei Wochen optische, zum Teil auch akustische Halluzinationen bekam. Damals beschrieb sie ihren Vater als sehr autoritär, impulsiv und nahezu gewalttätig, die Mutter als leidend, mitfühlend und in der Opferrolle verhaftet. Frühkindliche Entwicklung und Pubertät seien durch die strenge Erziehung sowie die Eheschwierigkeiten der Eltern geprägt gewesen. Ausweislich des Entlassungsberic...

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