Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Höhe des Krankengelds. hauptberuflich selbstständig Erwerbstätiger. Widerspruchsverfahren. abweichendes Arbeitseinkommen im Referenzzeitraum. oberhalb der Beitragsberechnung. Berücksichtigung bei der Berechnung des Krankengelds
Leitsatz (amtlich)
1. Wird die Bestandskraft des Krankengeldbescheids bei hauptberuflich selbstständig Erwerbstätigen durch das Erheben eines Rechtsbehelfs temporär suspendiert und liegen der Krankenkasse während des laufenden Vorverfahrens konkrete Nachweise für ein Abweichen der Einkünfte im Referenzzeitraum vor, so hat sie dies bei der Höhe des Krankengelds zu berücksichtigen.
2. Dabei ermöglicht das Entgeltersatzprinzip (bei Vorliegen konkreter Nachweise bezüglich des Referenzzeitraums) auch Krankengeld aus einem oberhalb der Beitragsberechnung zugrunde liegenden Arbeitseinkommens.
Orientierungssatz
Zu Leitsatz 2 vgl BSG vom 22.2.2017 - B 3 KR 47/16 B = juris RdNr 13 und vom 6.11.2008 - B 1 KR 28/07 R = SozR 4-2500 § 47 Nr 10 RdNr 22.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 14. Juni 2022 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 10. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Oktober 2020 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 9. Januar 2020 bis 29. Mai 2020 Krankengeld unter Zugrundelegung eines Regelentgelts von monatlich 5.175 € zu gewähren.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger im Zeitraum vom 9. Januar 2020 bis 29. Mai 2020 höheres Krankengeld zusteht.
Der 1985 geborene Kläger ist als Maler und Lackierer hauptberuflich selbstständig tätig. Er war vom 1. September 2018 bis zur Beendigung seiner Mitgliedschaft zum 31. Dezember 2020 freiwilliges Mitglied der Beklagten mit Anspruch auf Krankengeld ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 25. September 2019 setzte die Beklagte den Beitrag des Klägers auf der Grundlage des im September 2019 vorgelegten Einkommensteuerbescheids für 2017 vom 1. Februar 2019 (Einkünfte aus Gewerbebetrieb: 27.817 €) nebst „Einkommenserklärung zur Beitragseinstufung“ vom 20. September 2019 ab 1. März 2019 neu fest.
Wegen einer Achillessehnenverletzung war der Kläger vom 28. November 2019 bis 29. Mai 2020 arbeitsunfähig. Im Formular der Beklagten „Einkommensverlust während der Arbeitsunfähigkeit“ gab der Kläger unter dem 16. Dezember 2019 an, sein Einkommensverlust aufgrund der aktuellen Arbeitsunfähigkeit betrage monatlich 7.000,00 €. Zum Nachweis dessen verwies er auf die Betriebswirtschaftliche Auswertung von Oktober 2019. Mit Bescheid vom 10. Januar 2020 gewährte die Beklagte dem Kläger ab 9. Januar 2020 Krankengeld in Höhe von kalendertäglich 53,27 €. Der Berechnung des Krankengeldes legte sie das im Einkommensteuerbescheid für 2017 ausgewiesene Einkommen und dementsprechend ein monatliches Regelentgelt in Höhe von 2.318,08 € zugrunde. Am 24. Januar 2020 ging bei der Beklagten der Einkommensteuerbescheid für 2018 vom 16. Januar 2020 ein, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 77.683,00 € ausweist.
Gegen den Bescheid vom 10. Januar 2020 erhob der Kläger am 5. Februar 2020 Widerspruch und machte geltend, für Selbstständige gelte als Regelentgelt der kalendertägliche Betrag, der zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung aus Arbeitseinkommen maßgebend gewesen sei. Es seien somit nicht die Beträge aus dem Jahr 2017 heranzuziehen, sondern die aktuelleren Werte. Im Jahr 2018 habe der Gewinn aus Gewerbebetrieb ausweislich des bereits vorgelegten Einkommensteuerbescheids ca. 77.000 € betragen und nach der beigefügten Betriebswirtschaftliche Auswertung seien bis einschließlich November 2019 ca. 57.000 € erzielt worden. Er habe somit in beiden Jahren ein Einkommen erzielt, das über der Beitragsbemessungsgrenze liege. Das Krankengeld sei daher mit dem Höchstsatz auszuzahlen. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2020 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück. Für Versicherte, die nicht Arbeitnehmer seien, gelte gemäß § 47 Abs. 4 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) als Regelentgelt der kalendertägliche Betrag, der zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit für die Beitragsbemessung aus Arbeitseinkommen maßgebend gewesen sei. Als Arbeitseinkommen sei nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts der ermittelte Gewinn aus einer selbstständigen Tätigkeit heranzuziehen, wobei das Einkommen als Arbeitseinkommen zu werten sei, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten sei. Vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit ab dem 28. November 2019 sei das Arbeitseinkommen aus dem Einkommensteuerbescheid für 2017 der Beitragsberechnung zugrunde gelegt worden, in dem Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 27.817 € ausgewiesen seien, was einem Monatsbetrag von 2.318,08 € entspreche. Dieses Einkommen gelte so...