Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen B. Begleitperson. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Katalogfälle nicht abschließend. Gleichstellung bei gleich schwerer Teilhabebeeinträchtigung. funktionelle Gesamtschau im Hinblick auf die Möglichkeit der alleinigen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Zusammenwirken von Orientierungsstörung und Sturzgefahr. Bedeutung einer Fußheberparese für Ein- und Aussteigen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Regelung zur Berechtigung der Inanspruchnahme einer ständigen Begleitung (Merkzeichen B) in Teil D Nr 2 VG ist nicht abschließend.

2. Liegt kein "Katalogfall" des Teil D Nr 2 Buchst c VG vor, kommt eine Berechtigung für eine ständige Begleitung jedoch in Betracht, wenn der Schweregrad einer Behinderung alleine oder mehrerer Behinderungen zusammen in einer "funktionellen Gesamtschau" entsprechend dem Schutzzweck der Regelung eine so schwere funktionelle Teilhabebeeinträchtigung ergibt, wie sie durch die "Katalogfälle" des Teil D Nr 2 Buchst c VG beschrieben ist, so dass eine Gleichstellung mit dem in der VersMedV genannten Personenkreis entsprechend der "Katalogfälle" gerechtfertigt ist.

 

Orientierungssatz

1. Damit können auch Funktionsbehinderungen, die nicht in Teil D Nr 2 Buchst c der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Anlage zu § 2 VersMedV) genannt sind, eine Begleitungsbedürftigkeit begründen, wenn diese dazu führen, dass die schwerbehinderten Menschen in das Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs nicht alleine einsteigen, damit fahren bzw wieder aussteigen können, sich bei dessen Benutzung alleine nicht zurechtfinden oder sich an der jeweiligen Haltestelle nicht alleine ausreichend orientieren können.

2. In diesem Zusammenhang kann eine Fußheberparese gerade bei Benutzung von Verkehrsmitteln, die eine Stand- und Gehsicherheit im fahrenden Verkehrsmittel vor Erreichen oder nach Verlassen des Sitzplatzes an Haltepunkten/Bahnhöfen beim Ein- und Aussteigen erfordern, von besonderer Bedeutung sein.

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.08.2018 abgeändert. Die Klage wird abgewiesen, soweit das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung des Merkzeichens „B“ auch für den 01.03.2016 verurteilt hat. Im Übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger gegen den Beklagten ein Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs „B“ (ständige Begleitung; Merkzeichen „B“) zusteht.

Dem 1950 geborenen Kläger war mit Bescheid des Landratsamtes K. (LRA) vom 15.01.2013 (Blatt 122/123 der Beklagtenakte) ein GdB vom 100 seit 12.08.20122 zuerkannt worden (zugrundeliegende Funktionsbehinderungen: Bluthochdruck, Herzleistungsminderung, Kardioverter-Defibrillator; Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Instabilität beider Kniegelenke, Teillähmung des rechten Wadenbeinnervs; Schwerhörigkeit beidseits, Ohrgeräusche beidseits ≪Tinnitus≫; Depression; degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Nervenwurzelreizerscheinungen; Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenks; Nierenfunktionseinschränkung; chronische Bronchitis, Allergie; zur zugrundeliegenden versorgungsärztlichen Stellungnahme vgl. Blatt 118/119 der Beklagtenakte). Mit Bescheid vom 14.01.2013 (Blatt 120/121 der Beklagtenakte) war dem Kläger auch das Merkzeichen „G“ zuerkannt worden. Mit Bescheid vom 12.02.2014 lehnte das LRA die Feststellung der Merkzeichen „B“ und „aG“ ab (zum Antrag vom 16.12.2013 vgl. Blatt 130/147 der Beklagtenakte; zur Auskunft des Augenarztes Prof. Dr. B. vgl. Blatt 150/152 der Beklagtenakte; zur versorgungsärztlichen Stellungnahme vgl. Blatt 153/154 der Beklagtenakte).

Am 02.03.2016 (Blatt161/162 der Beklagtenakte) beantragte der Kläger beim LRA erneut die Feststellung der Merkzeichen „B“ und „aG“. Das LRA zog Befundbeschreibungen der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Z. (dazu vgl. Blatt 165/179 der Beklagtenakte) sowie den Entlassungsbrief des Diakonissenkrankenhauses K. vom 26.01.2016 (Blatt 181/182 der Beklagtenakte).

Der Versorgungsarzt Dr. Z. führte in seiner Stellungnahme vom 19.05.2016 (Blatt 183/184 der Beklagtenakte) aus, es liege ein operiertes Gallenwegs-Ca T3N0M0 vor. Er befürwortete die Merkzeichen „B“ und „aG“ nicht.

Mit Bescheid vom 25.05.2016 (Blatt 185/186 der Beklagtenakte) lehnte das LRA die Feststellung der Merkzeichen „B“ und „aG“ ab.

Hiergegen erhob der Kläger am 23.06.2016 Widerspruch und verwies zur Begründung auf seine Wirbelsäulenbeschwerden und die Folgen eines plötzlichen Anspringens des Defibrillators.

Das LRA zog von Dr. Z. weitere Befundbeschreibungen bei (dazu vgl. Blatt 192/198 der Beklagtenakte) woraufhin der Versorgungsarzt Dr. S. in seiner Stellungnahme vom 29.08.2016 (Blatt 199 der Beklagtenakte) eine Änderung der bisherigen Auffassung nicht für ang...

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