Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. Pflegegeld. Anrechnung von Ehegatteneinkommen. keine Anwendbarkeit des § 94 SGB 12. Zumutbarkeit des Einsatzes von Einkommen über der Einkommensgrenze. besondere Belastungen
Leitsatz (amtlich)
Bei der Bestimmung des zumutbaren Einkommens über der Einkommensgrenze nach § 87 Abs 1 SGB 12 sind bei schwerstpflegebedürftigen oder blinden Menschen neben dem Mindestbetrag nach § 87 Abs 1 S 3 SGB 12 weitere Freilassungen für Umstände zu berücksichtigen, die nicht typisierend von der Art oder Schwere der Behinderung oder Pflegebedürftigkeit dieses Personenkreises umfasst sind.
Orientierungssatz
§ 94 SGB 12 findet nach Wortlaut und Systematik keine Anwendung auf Personen der Einsatzgemeinschaft nach § 19 Abs 3 SGB 12 (hier: den nicht getrennt lebenden Ehegatten).
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11. August 2011 und der Bescheid des Beklagten vom 8. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2011 abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Januar 2010 bis 30. September 2010 um € 64,71, vom 1. Oktober 2010 bis 31. Dezember 2010 um € 212,71 sowie vom 1. Januar 2011 bis 30. Juni 2011 um € 214,31 monatlich höheres Pflegegeld zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin ein Viertel ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Pflegegeldes nach § 64 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) in der Zeit vom 1. Januar 2010 bis 30. Juni 2011 streitig, insbesondere die Anrechnung des Ehegatteneinkommens.
Die 1958 geborene, schwerbehinderte Klägerin ist aufgrund einer Querschnittslähmung dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen; auch die oberen Extremitäten sind teilweise gelähmt, die Greiffunktionen stark eingeschränkt. Seitens der Pflegekasse ist sie als Schwerstpflegebedürftige i.S.d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (≪SGB XI≫; Pflegestufe III) anerkannt und erhält entsprechende Sachleistungen. Ein Pflegegeld nach § 37 SGB XI bezieht sie nicht. Bereits vor Einführung der sozialen Pflegeversicherung hatte sie ein Pflegegeld nach den bis 31. März 1995 geltenden Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) - gekürzt wegen des Bezuges weiterer Leistungen - bezogen. Ihr 1957 geborener Ehemann (im Folgenden JS) leidet an einer spastischen Halbseitenlähmung mit starker Gehbehinderung (Pflegestufe I nach § 15 SGB XI). Das Ehepaar wohnt gemeinsam mit ihrem 1987 geborenen, studierenden Sohn in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Die 1989 geborene Tochter hat nach Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres zum 1. Oktober 2010 die elterliche Wohnung verlassen, um auswärts ein Studium aufzunehmen. Die Kosten der Unterkunft belaufen sich monatlich auf € 288,62.
Die Klägerin bezog im streitgegenständlichen Zeitraum eine Rente wegen voller Erwerbsminderung i.H.v. € 979,88 sowie eine VBL-Rente i.H.v. € 258,79 (jeweils monatlicher Auszahlungsbetrag). Das monatliche Einkommen des JS aus einer Teilzeittätigkeit als Jugendgerichtshelfer belief sich nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen auf € 1.608.- netto. Das Kindergeld i.H.v. € 184.- monatlich je Kind wurde an ihn ausgezahlt; eine Weiterleitung an die Kinder erfolgte nicht. Auf einen staatlich geförderten Altersvorsorgevertrag (sog. Riester-Rente) zahlte er monatlich € 35,95, als Gewerkschaftsbeitrag monatlich € 19,09. Den Weg zur 25 km entfernten Arbeitsstelle legt er mit einem Kfz zurück; die Haftpflichtversicherung für dieses belief sich auf € 16,73 monatlich. Die Kinder hatten von ihrer Großmutter zu gleichen Teilen eine Eigentumswohnung übertragen erhalten, in der diese gegenwärtig aufgrund eines lebenslangen, unentgeltlichen Wohnungsrechts lebt. Anträge auf Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) wurden aufgrund dessen abgelehnt. Die Eltern unterstützen den Sohn mit € 300.- monatlich, die Tochter ab dem 1. Oktober 2010 mit monatlich € 400.-.
Die Klägerin erhält vom Beklagten Hilfe zur Pflege u.a. in Form der Kostenübernahme für die Dienste der Sozialstation und privater Einsatzkräfte, soweit sie durch Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckt werden.
Mit Bescheid vom 28. Februar 2007 hatte der Beklagte außerdem als Hilfe zur Pflege für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2007 ein als besitzstandwahrend bezeichnetes Pflegegeld i.H.v. € 195,16 monatlich bewilligt. Der dagegen eingelegte Widerspruch war mit Widerspruchsbescheid vom 8. November 2007 zurückgewiesen worden. Der Beklagte hatte ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf besitzstandwahrendes Pflegegeld nach Art. 51 des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG), sondern nur auf solches nach dem SGB XII mit einer ungünstigeren Einkommensgrenze. Daher stehe ihr gar kein Pflegegeld mehr zu; aus Gründ...