Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. konkretes Gehvermögen im Hinblick auf Zurücklegen einer Wegstrecke von 2 km in 30 Minuten nicht maßgeblich. Erforderlichkeit der Erfüllung von Regelbeispielen nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen oder Vorliegen einer vergleichbaren Behinderung
Leitsatz (amtlich)
Zum Merkzeichen G: Bei der Beurteilung, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr besteht, ist zu beachten, dass das Gehvermögen von verschiedenen Faktoren geprägt wird. Dabei sind von Relevanz die anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und Behinderungen, und nicht die das Gehvermögen ebenfalls beeinflussenden Faktoren wie Trainingszustand, Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation. Mit Hilfe der unter den VG, Teil D, Nr 1 Buchst d bis f aufgeführten Regelbeispiele ist der für die Feststellung des Merkzeichens G tatsächlich in Betracht kommende Personenkreis praxisgerecht von den Personen abzugrenzen, die lediglich behaupten, ortsübliche Wegstrecken nicht mehr zu Fuß zurücklegen zu können, oder die aus nicht behinderungsbedingten Gründe ortsübliche Wegstrecken nicht zurücklegen.
Orientierungssatz
Für die Zuerkennung des Merkzeichens G ist nicht ausschlaggebend, ob konkret eine Wegstrecke von 2 km in 30 Minuten zurückgelegt werden kann, sondern es ist allein entscheidend, ob ein Regelbeispiel gemäß Teil D Nr 1 Buchst d bis f der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (Anlage zu § 2 VersMedV) vorliegt oder ob die vorhandene Behinderung mit einem solchen Regelbeispiel vergleichbar ist (vgl BSG vom 13.8.1997 - 9 RVs 1/96 = SozR 3-3870 § 60 Nr 2).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten der Klägerin sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Merkzeichens “Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr„ (G) streitig.
Bei der 1953 geborenen Klägerin wurde zuletzt aufgrund eines Anerkenntnisses des Beklagten vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG) in dem Verfahren S 17 SB 2979/09 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 seit 13.11.2008 zuerkannt (Ausführungsbescheid des Beklagten vom 11.08.2010).
Nachdem ihr im August 2011 gestellter Antrag auf Erhöhung des GdB und Feststellung des Merkzeichens G ohne Erfolg geblieben war (Bescheid vom 22.09.2011), beantragte die Klägerin am 09.05.2014 erneut die Feststellung des Merkzeichens G. In dem von dem Beklagten bei der Hausärztin der Klägerin, Fachärztin für Allgemeinmedizin A., angeforderten Befundbericht vom 22.05.2014 führte diese aus, dass die Klägerin am 09.11.1995 bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall ein Schädelhirntrauma, eine Milzruptur mit nachfolgender operativer Entfernung der Milz, einen Unfallschock und einen Stressulcus ventriculi erlitten habe. Es bestünden ein chronischer Schmerzzustand des Bewegungsapparates auf Grund der Unfallfolgen, mehrfache Protrusionen im Halswirbelsäulen (HWS)-Bereich (C3/4, C4/5, C6/7) und mehrfache Bandscheibenvorfälle auf drei Etagen im lumbalen Bereich LWK4/5, LWK3/4, LWK5/SWK1. Die physiologische Lordose der HWS sei aufgehoben. Weiterhin bestünden posttraumatische Gleichgewichtsstörungen und Schwindelzustände, welche zusätzlich die Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigen würden. Die Klägerin sei beim Gehen und besonders im Straßenverkehr sehr unsicher und auf fremde Hilfe angewiesen. Nach Auswertung dieses Berichts, dem beigefügten Bericht über die Computertomographie des Abdomens und des Beckens mit intravenöser Kontrastmittelinjektion vom 20.04.2009 sowie des von dem Beklagten außerdem angeforderten Berichts des Dr. B., Rheumatologische Schwerpunktpraxis B., vom 28.07.2014 (vorläufige Diagnosen: kein Hinweis auf entzündlich rheumatische Systemerkrankung, Fibromyalgiesyndrom) kam Dr. C. in der gutachtlichen Stellungnahme vom 08.09.2014 zu dem Ergebnis, dass der Gesamt-GdB weiterhin 60 betrage, unter Berücksichtigung folgender Einzel-GdB: Depression, psychovegetative Störungen: Einzel-GdB 40; Magengeschwürsleiden, Verlust der Milz, Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation: Einzel-GdB 20; degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Kalksalzminderung des Knochens (Osteoporose): Einzel-GdB 20; Verlust der Gebärmutter, Verlust der Eierstöcke: Einzel-GdB 10; Krampfadern: Einzel-GdB 10; Funktionsbehinderung beider Schultergelenke: Einzel-GdB 20. Ergänzend führte Dr. C. u.a. aus, dass die Voraussetzungen für das Merkzeichen G nicht erfüllt seien. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11.09.2014 die Neufeststellung des GdB und die Feststellung des Merkzeichens G ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte - nachdem Dr. S. in der gutachtlichen Stellungnahme vom 07.12.2014 an der bisherigen Beurteilung der Einzel- sowie des...