Entscheidungsstichwort (Thema)
Neufassung des § 1 Abs 3 BKGG zum 1.1.1994 ist verfassungsgemäß. verfassungskonforme Auslegung des § 35 AuslG
Orientierungssatz
1. Die Neufassung des § 1 Abs 3 BKGG zum 1.1.1994 ist nicht verfassungswidrig (Anschluß an BSG vom 31.10.1995 - 10 RKg 23/94).
2. § 35 AuslG ist verfassungskonform dahingehend zu interpretieren, daß der Beurteilung der dort geforderten Sicherung des Lebensunterhaltes die nach Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bestehenden Verhältnisse zugrundezulegen sind.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Kindergeldbewilligung ab Januar 1994.
Die 1958 geborene Klägerin ist libanesische Staatsangehörige sunnitischen Glaubens. Sie hält sich seit 03.05.1985 im Bundesgebiet auf. Ihr Asylantrag vom 23.05.1985 blieb ohne Erfolg (Urteil des Verwaltungsgerichtes - VG - Stuttgart vom 27.05.1988 - A 13 K 8004/87 -, rechtskräftig seit 03.08.1988). Der Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet wurde zunächst geduldet. Seit 02.07.1991 ist sie im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Ihre Klage auf Erteilung einer am 04.02.1994 beantragten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis wurde mit Gerichtsbescheid des VG Sigmaringen vom 17.03.1995 - 7 K 1612/94 - abgewiesen.
Die Klägerin bezog für sich und ihre Familie bis Dezember 1991 - zuletzt aufstockende - Sozialhilfe. Seit Juli 1992 gewährt der Sozialhilfeträger erneut laufende Hilfe zum Lebensunterhalt einschließlich Wohngeld (Januar 1993: DM 1.217,--, Oktober 1993: DM 1.035,--, Juli 1995: DM 1.406,80). Das zuständige Finanzamt bescheinigte der Klägerin und ihrem Ehemann mit Bescheid vom 30.05.1994, daß voraussichtlich im Zeitraum vom 01.01.1993 bis 31.12.1995 eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht in Betracht komme. Nach ihren Angaben war die Klägerin ab Oktober 1993 teilzeitbeschäftigt (pauschalversteuert); dabei erzielte sie im Februar 1994 einen Arbeitslohn von DM 519,75. Seit September 1994 absolviert sie eine Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau und bezieht Übergangsgeld.
Der Ehemann der Klägerin erhielt bis einschließlich Juni 1991, die Klägerin ab Juli 1991 Kindergeldleistungen für ihre vier Kinder (geboren 1979, 1983 und 1989), die sich im Jahre 1993 auf monatlich DM 660,-- (ungemindertes Kindergeld) zuzüglich DM 260,-- (Kindergeldzuschlag) beliefen. Mit Bescheid vom 28.12.1993 hob die Beklagte die Bewilligung des Kindergeldes mit Ablauf des Monats Dezember 1993 auf, weil aufgrund einer Änderung des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) ab Januar 1994 der Kindergeldanspruch bei ausländischen Staatsangehörigen davon abhänge, daß sie eine gültige Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis besitzen. Diese Voraussetzung sei bei der Klägerin nicht erfüllt. Mit ihrem hiergegen gerichteten Widerspruch trug die Klägerin vor, die Neuregelung des BKGG sei verfassungswidrig. Sie unterfalle als Flüchtling dem Schutz des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951, verkündet mit Gesetz vom 01.09.1953 (BGBl. II, 559) - Genfer Konvention (GK) - und werde durch den Entzug des Kindergeldes gegenüber anerkannten Flüchtlingen sozialrechtlich diskriminiert. Müsse aufgrund der Entziehung des Kindergeldes Sozialhilfe in Anspruch genommen werden, verschlechtere sich ihr aufenthaltsrechtlicher Status; wegen des Bezugs der Sozialhilfe könne weder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt noch künftig Kindergeld bezogen werden.
Mit Bescheid vom 23.02.1994 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 02.03.1994 Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben. Sie hat vorgetragen, das Abgrenzungskriterium des formellen Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis sei eine mehr oder weniger verhüllte Diskriminierung des Kinderreichtums ausländischer Familien, die auch gegen europäisches Recht verstoße, sofern einer Arbeit nachgegangen werde oder Arbeitslosigkeit bestehe. Sie sei als de facto-Flüchtling anzusehen, auf welche die GK anzuwenden sei. Aufgrund der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV 1408/71), ergebe sich die Verpflichtung zur sozialrechtlichen Gleichstellung der Flüchtlinge mit den Angehörigen der Mitgliedstaaten.
Das SG hat durch Urteil vom 18.05.1995 die Klage abgewiesen und im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 BKGG in der seit 01.01.1994 geltenden Fassung durch das Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21.12.1993 (BGBl. I, 2353; 1994, 72). Die Klägerin sei lediglich im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Die demnach gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches, Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) rechtmäßige Aufhebung der Kindergeldbewilligung mit Wirkung für die Zukunft, d.h. ab 01.01.1994, lasse sich weder durch eine lückenfüllende noch durch eine verfassungskonforme Auslegung vermeiden....