Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Giftbeibringung. Verabreichung falscher Medizin durch die Mutter. keine feindselige Willensrichtung. kein Vorsatz. Überdosierung. Beweiserleichterung. Tätlicher Angriff. Gesundheitsschaden
Leitsatz (amtlich)
Auch an sich unschädliche Stoffe wie Medikamente in falscher Dosierung können im Einzelfall Gift sein. Wenn bei der Geschädigten Diagnosen als gesichert gelten können, die eine Indikation für eine medikamentöse Behandlung mit dem streitigen Medikament darstellen, und eine Überdosierung nicht festgestellt werden kann, vielmehr die Schädigerin als ausgebildete Krankenschwester in der Lage ist, die Dosis entsprechend der Dosierungsanleitung in der Arzneimittelinformation nach dem Körpergewicht zu berechnen, es auch ein Vorsatz und Rechtswidrigkeit fehlt, so liegen die Voraussetzungen einer Giftbeibringung nicht vor, insbesondere wenn die Schädigerin in der Annahme handelt, das Opfer leide unter derselben Krankheit wie sie und benötige daher dasselbe Medikament.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 6 Abs. 3; KOVVfG § 15; SGG § 128 Abs. 1 S. 1
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 24. Mai 2012 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie durch die Beibringung des verschreibungspflichtigen Medikamentes Haldol durch ihre Mutter einer Giftbeibringung bzw. Opfer eines tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) geworden ist und dadurch psychische Gesundheitsstörungen davongetragen hat.
Die am … 1972 geborene Klägerin erhielt von ihrer Mutter, einer ausgebildeten Krankenschwester, zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr gelegentlich 3 - 4 Tropfen Haldol. Die Mutter litt an einer psychischen Erkrankung und erhielt das Medikament verschrieben. Sie verabreichte es an ihre Tochter, weil diese - ihrer Meinung nach - seelisch und körperlich in einer schlechten Verfassung war, Ess- und Schlafstörungen hatte (Bescheinigung G. Z. vom 27.09.2004, Bl. 60 Verwaltungsvorgang - VV). Die Mutter ist inzwischen verstorben (Schreiben der Klägerin vom 22.09.2014, Bl. 57 Senatsakte), der Vater bereits im Jahr 2009. Die Klägerin und ihr drei Jahre jüngerer Bruder, der Zeuge M. Z., waren vom 28.05.1979 bis 24.07.1980 in Pflegefamilien untergebracht, die Klägerin ab 1989 zunächst im M.-Heim, anschließend im betreuten Einzelwohnen.
Bereits bei der Aufnahme in die Pflegefamilie wies sie erhebliche körperliche und seelische Störungen auf (Bericht der Pflegeeltern an das Jugendamt L. in den Unterlagen des Kreisjugendamts L., nicht in den Akten; persönliche Vorsprache der Klägerin vor dem SG am 11.08.2008 von 14.45 Uhr bis 16.20 Uhr, Bl. 11/14 SG-Akte). Sie litt unter Schlafstörungen, Appetitverlust, Gewichtsabnahme, schrie, weinte nachts oft im Schlaf und störte die anderen Kinder. Sie war Bettnässerin, was zu Konflikten mit den Pflegeeltern führte. Den Pflegeeltern fiel auf, dass sie keinerlei Kontakt zu anderen Menschen aufnahm und eine generelle Angst vor Menschen im allgemeinen aufwies. Außerdem nahm sie die Finger in den Mund und biss so stark an ihnen herum, dass sich Wunden bildeten, die sich nachfolgend entzündeten. Sie musste ständig kontrolliert werden, um dieses Verhalten zu unterlassen. Ihre Pflegeeltern waren sehr verzweifelt. Sie wickelten ihr abends dicke Bandagen um die Hände und zogen ihr Handschuhe an, um sie daran zu hindern, sich nachts selbst zu verletzen. Sie wurde von den Pflegeeltern wegen schwerer Depressionen sowohl in ärztliche als auch in psychotherapeutische Behandlung gegeben. Nach einem Jahr kam sie zurück zu ihren Eltern und ihr Zustand verschlechterte sich weiter.
Das Jugendamt wusste von den Medikamentengaben, die zuständige Sachbearbeiterin bezeichnete die Behandlung gegenüber der Klägerin als in Ordnung, auch seitens der Polizei, die sie aufgriff, nachdem sie im Alter von ca. 10 Jahren weggelaufen war, wurde ihr mitgeteilt, dass dies seine Richtigkeit habe (Stellungnahme Dipl.-Psych. U. vom 09.01.2008, Bl. 61/66 VV). Akten der Jugendhilfe existieren nicht mehr, da diese zehn Jahre nach Ende der Hilfe vernichtet wurden (Auskunft Landratsamt L., Bl. 81 SG-Akte). Die Klägerin wurde im Kindes- und Jugendalter von ihrer Mutter mehrfach Psychiatern vorgestellt. Unterlagen hierzu hat sie nicht vorgelegt. Im Jahr 1988 wurde nach ambulanter Vorstellung der Klägerin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie T. die Diagnose einer juvenilen Psychose gestellt und eine stationäre Behandlung angeraten (Behandlungsbericht Klinikum S., B. über den 4. stationären Aufenthalt, vom 24.10.2001, Bl. 137 f VV). Die Klägerin begab sich stattdessen zu ihrer Tante nach Italien. Nach ihrer Rückkehr wurde sie zunächst im M.-Heim untergebracht, danach wegen massivster Schwierigkeiten mit anderen Heimbewohnern im betreute...