Entscheidungsstichwort (Thema)

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Behandlungsverweigerung. kein Ausschlussgrund. Versagung. Entziehung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Verweigerung eines Versicherten, sich ärztlich behandeln zu lassen, stellt für sich genommen keine absichtliche Herbeiführung einer verminderten Erwerbsfähigkeit und damit keinen Ausschlussgrund für die Rentengewährung nach § 103 SGB VI dar. Hier kommt allerdings eine Versagung oder Entziehung der Rente unter den Voraussetzungen des § 66 Abs 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) in Betracht.

 

Orientierungssatz

Zum Leitsatz vgl BSG vom 19.6.1979 - 5 RJ 122/77 - SozR 2200 § 1277 Nr 2.

 

Normenkette

SGB VI § 43 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 2 Nr. 3, Abs. 6, § 50 Abs. 1, § 101 Abs. 1, § 103; SGB I § 66 Abs. 2

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 20. März 2018 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren. Im Übrigen verbleibt es bei der erstinstanzlichen Kostenentscheidung.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung streitig.

Der 1983 geborene Kläger ist gelernter Metallarbeiter. Er absolvierte in der Zeit vom 08.08.2005 bis 25.06.2008 eine Berufsausbildung zum Metallbearbeiter im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme bei den v. A. Anstalten B., die er mit Bestehen der Abschlussprüfung beendete. Seitdem ist er arbeitslos und bezieht derzeit Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Bei ihm ist mittlerweile ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den Merkzeichen G und B anerkannt wegen eines epileptischen Anfallsleidens.

Der Kläger durchlief in der Zeit vom 25.10.2012 bis 19.02.2013 bei Alkohol- und Drogenabhängigkeit und Epilepsie eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Fachklinik C.. Im dortigen Entlassungsbericht vom 26.02.2013, der vom Arzt für Psychiatrie D. (Ärztlicher Leiter) und dem Dipl.-Sozialpädagogen E. erstellt wurde, wird ausgeführt, der Kläger sei nur eingeschränkt arbeitsfähig. Die Abhängigkeitserkrankung verbiete die Arbeit an Arbeitsplätzen mit Griffnähe zum Alkohol. Wegen der Epilepsie sei er schwerbehindert und bisher trotz Abstinenz nicht anfallsfrei. Wegen der deutlichen Nebenwirkungen der Medikation sei er allenfalls halbschichtig (drei bis unter sechs Stunden) leistungsfähig für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten in einer geschützten Werkstatt. Aufgrund der bestehenden Einschränkungen (psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol, Cannabinoide, Amphetamine und Nikotin) sei er aktuell nicht in der Lage, den Anforderungen des ersten Arbeitsmarkts nachzukommen. In Folge der epileptischen Erkrankung und der daraus resultierenden Einschränkungen sei er sicherlich nicht dazu in der Lage, selbstständig und eigenverantwortlich zu leben. Zur Festigung der Abstinenz plane der Kläger die Durchführung einer ambulanten Nachsorge sowie die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe. Der Kläger wurde aus dieser Maßnahme in eine betreute Wohngruppe entlassen. Mit Schreiben vom 08.03.2013 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) im Sinne einer Eingliederung in eine Werkstatt für behinderte Menschen ab, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht erheblich gefährdet sei. Eine ambulante Nachsorge brach der Kläger bereits nach einer Sitzung ab.

In einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13.05.2013 schätzte die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F. das Leistungsvermögen für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden täglich ein. Dies sei begründet durch das hirnorganische Psychosyndrom. Mit einer wesentlichen Besserung könne nicht gerechnet werden. Eine Belastbarkeit bestehe für eine Tätigkeit in einer Werkstatt für Behinderte (WfB), vorausgesetzt der Kläger sei suchtmittelabstinent.

Der Kläger steht seit 21.11.2012 unter Betreuung, die u.a. auch die Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern umfasst. Einen gestellten Antrag auf Bewilligung einer stationären Entwöhnungsbehandlung zog der Kläger mit Schreiben vom 01.07.2014 zurück.

Am 25.03.2015 stellte der frühere Betreuer des Klägers bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte ließ den Kläger am 15.05.2015 durch G., Facharzt für Allgemeinmedizin und Anästhesiologie, begutachten. Dieser führte im Gutachten vom 18.05.2015 zur Epikrise aus, der Kläger lebe derzeit mit einem Lebensgefährten in einer Notunterkunft der Stadt O.. Nach eigenen Angaben fühle er sich derzeit beschwerdefrei, leistungsfähig und arbeitsfähig. G. diagnostizierte eine Epilepsie, unter Medikation noch 1-2 Anfälle pro Monat, fortgesetzten Alkoholabusus ohne wesentliche Alkoholfolgeschäden und gelegentlichen Haschischkonsum. Er sah bei zumutbarer Alkohol- und Drogenabstinenz und regelmäßiger Einnahme der antiepileptischen Medikation nach einer evtl. erforderlichen E...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?