Entscheidungsstichwort (Thema)

Streitgegenstand in einem Rechtsstreit um höhere Rente. Verfassungsmäßigkeit der Absenkung von Entgeltpunkten nach § 22 Abs 4 FRG auch unter Berücksichtigung des EU-Beitritts Rumäniens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt der Rentenversicherungsträger während des Rechtsstreits über die Höhe der bewilligten Rente diese Rente durch Bescheid von Anfang an und höher fest, wird dieser Bescheid gem § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Rechtsstreits und ersetzt den angefochtenen Bescheid in Bezug auf die Rentenhöhe in vollem Umfang.

2. Eine eventuelle Versäumung der Klagefrist ist damit gegenstandslos.

3. Streitgegenstand eines Rechtsstreits um höhere Rente ist der vom Versicherten gerügte Fehler.

4. Die Absenkung von Entgeltpunkten um 40 vH nach § 22 Abs 4 FRG ist auch unter Berücksichtigung des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 29.01.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin unter voller Anrechnung der nach dem Fremdrentengesetz (FRG) ermittelten Entgeltpunkte höhere Erwerbsminderungsrente zusteht.

Die am …1952 geborene, aus R. stammende Klägerin zog am 21.08.1992 ins Bundesgebiet zu. Sie ist Inhaberin des Vertriebenenausweises A. Mit Bescheid vom 10.11.2011 bewilligte die Beklagte der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.07.2011 in Höhe von anfänglich 743,95 € brutto bzw. nach Neufeststellung der Rentenhöhe von Anfang an in Höhe von 751,09 € (Bescheid vom 19.12.2011). Der Rentenberechnung lagen u.a. Versicherungszeiten nach dem FRG, und zwar für den Zeitraum vom 01.10.1971 bis 20.08.1992 zu Grunde. Die durch Gesetz bzw. Rechtsverordnung festgelegten Werte für die nach dem FRG anerkannten Zeiten wurden bei der Ermittlung der maßgeblichen Entgeltpunkte um 40% durch Multiplikation mit dem Faktor 0,6 vermindert. Wegen der Einzelheiten der Rentenberechnung wird auf diese Bescheide verwiesen.

Hiergegen erhob die Klägerin u.a. wegen der erfolgten Kürzung um 40 v.H. Widerspruch. Insoweit machte sie geltend, seit dem Inkrafttreten des Abkommens über Soziale Sicherheit zwischen R. und der Bundesrepublik Deutschland zum 01.06.2006 bzw. seit dem Beitritt R. s zur Europäischen Union (EU) zum 01.01.2007 sei die Kürzung der Entgeltpunkte nicht mehr gerechtfertigt, “da die Deutsche Rentenversicherung nicht mehr - wie vor dem 01.06.2006 - einseitig belastet ist, da R. seit diesem Zeitpunkt ihren Anteil zu den Renten der Aussiedler aus R. beiträgt.„

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2012 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin insoweit zurück. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe mit Beschluss vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 u.a.) entschieden, dass die durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.09.1996 eingeführte Regelung in § 22 Abs. 4 FRG, wonach die nach dem FRG erworbenen Entgeltpunkte bei einem Rentenbeginn nach dem 30.09.1996 um 40 v.H. zu mindern sind, mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Lediglich für rentennahe Jahrgänge, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland vor dem 01.01.1991 genommen hätten und deshalb nach der bis zur Verkündung des WFG geltenden Rechtslage eine ungeschmälerte Rente aus Zeiten nach dem FRG beanspruchen könnten, habe es das Fehlen einer Übergangsregelung beanstandet. Diese habe der Gesetzgeber dann durch das am 30.04.2007 verkündete RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz Art. 6 § 4c FANG mit Wirkung zum 01.10.1996 geschaffen. Diese Regelung, die für Zeiten des Rentenbezugs bis 30.06.2000 einen Zuschlag an persönlichen Entgeltpunkten vorsehe, sei verfassungskonform, wie das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteilen vom 20.10.2009, B 5 R 38/08 R und 25.02.2010, B 13 R 61/09 R, entschieden habe. Eine gegen diese Übergangsregelung gerichtete Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1201/10) habe das BVerfG mit Beschluss vom 15.07.2010 nicht zur Entscheidung angenommen. Die nach dem FRG berücksichtigten Entgeltpunkte seien daher zu Recht auf 60 % abgesenkt worden.

Gegen den zur Übersendung an ihre Bevollmächtigte am 08.03.2012 zur Post gegebenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 12.04.2012 beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage erhoben. Mit dieser hat sie sich zuletzt nur noch gegen die Kürzung der nach dem FRG berücksichtigten Entgeltpunkte um 40 % gewandt und geltend gemacht, die Beklagte verkenne, dass der vorliegende Sachverhalt nicht mehr mit jenem vergleichbar sei, der dem BVerfG in den Jahren 2006 und 2010 bzw. dem BSG in den Jahren 2009 und 2010 zu Grunde gelegen hätte. Denn diese Verfahren hätten Personen betroffen, deren Rente vor Inkrafttreten des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und R. über Soziale Sicherheit vom 08.04.2005 bzw. vor dem EU-Beitritt R. s am 01.01.2007 begonnen hätten, d.h. als R. weder durch zwischenstaatliche Abkommen noch durch...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge