Entscheidungsstichwort (Thema)

Anordnungsanspruch. Folgenabwägung. Bedürftigkeit. nicht ausreichend Feststellungen

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2006 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30. April 2007, spätestens jedoch bis zur Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerinnen gegen den die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ablehnenden Bescheid des Antragsgegners vom 8. August 2006, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 620,00 €, für Februar 2007 anteilig für die verbleibenden Tage vom Zeitpunkt der Zustellung dieses Beschlusses an, zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellerinnen ihre außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Das Aktivrubrum war zu ändern. Gegenstand des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sind bei sachgerechter Auslegung des erstinstanzlich geltend gemachten Begehrens die Anträge der in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Antragstellerinnen zu 1) und zu 2) auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - des Sozialgesetzbuches (SGB II). Die Antragstellerin zu 1) kann als Mitglied dieser Bedarfsgemeinschaft nicht im eigenen Namen die Ansprüche der Antragstellerin zu 2) mit einer Klage oder, wie im vorliegenden Verfahren, mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verfolgen, sondern jedes Mitglied muss seine Ansprüche im eigenen Namen geltend machen (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 - L 7 b AS 8/06 R - (www.bundessozialgericht.de) und bereits Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 9. Mai 2006 - L 10 AS 102/06 -). Die Bevollmächtigung der Antragstellerin zu 1) für das vorliegende Verfahren konnte dabei unterstellt werden (§ 73 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2006 mit dem am 22. September 2006 beim Sozialgericht eingegangenen und im Beschwerdeverfahren nunmehr bezifferten Antrag der Antragstellerinnen, den Antragsgegner im Wege einer einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 1.120,20 € zu gewähren, ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

1.) Für die Gewährung von Leistungen ab Eintragseingang bei dem Sozialgericht Berlin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde. Die Antragstellerinnen haben - auch nach Erhalt der Entscheidung des Sozialgerichts, die unter anderem auf das Fehlen des Anordnungsgrundes gestützt war - keine Umstände vorgetragen, die einen Anordnungsgrund begründen können.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO], 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn inso...

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