Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung einer einstweiligen Bewilligung von Krankengeld durch das Beschwerdegericht. Einstweilige Anordnung. Anordnungsgrund. Besondere Dringlichkeit. Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung

 

Orientierungssatz

1. Die Annahme einer besonderen Dringlichkeit zur Bejahung eines Anordnungsgrundes für die  Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz scheidet regelmäßig aus, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat. Diese ist durch den Zeitablauf überholt; infolgedessen ist das Abwarten einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren zumutbar, vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05.

2. Hieraus folgt, dass das Beschwerdegericht beantragtes Krankengeld in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich erst ab dem Zeitpunkt seiner Entscheidung zusprechen kann und darf.

3. Hat das Sozialgericht im Wege der einstweiligen Anordnung Krankengeld für einen Zeitraum zugesprochen, der vor seiner Entscheidung liegt, so ist auf die Beschwerde der Krankenkasse der zusprechende Beschluss aufzuheben. Der Antragsteller hat nämlich seinen Lebensunterhalt ohne das zugesprochene Krankengeld gedeckt. Die Klärung, ob ihm bis zur sozialgerichtlichen Entscheidung zusteht, bleibt damit dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

4. Nur ausnahmsweise kann das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen. Dies setzt voraus, dass bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine stattgebende Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht hinreichend rückgängig machen lassen.

 

Normenkette

SGG § 86b Abs. 2 S. 2; GG Art. 19 Abs. 4

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Mai 2013 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 22. April 2013 wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Mai 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller über den 10. März 2013 hinaus bis zum 07. Mai 2013 Krankengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das Sozialgericht hätte es vielmehr ablehnen müssen, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zur Zahlung von Krankengeld für den streitigen Zeitraum zu verpflichten, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen des § 86 b Abs. 2 SGG nicht vorlagen und nicht vorliegen.

Denn der Antragsteller begehrt für einen Zeitraum Krankengeld, der vor der Entscheidung des Sozialgerichts liegt. Hierfür bestand und besteht kein eiliges Regelungsbedürfnis (mehr); insoweit hat der Antragsteller deshalb keinen Anordnungsgrund nach § 86b Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

1.) In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies grundsätzlich der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung, im sozialgerichtlichen Verfahren der Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05; zitiert nach juris). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

2.) Daraus ist abzuleiten, dass das Beschwerdegericht - vorbehaltlich der noch darzustellenden Ausnahmen - Krankengeld erst ab dem Zeitpunkt seiner Entscheidung in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zusprechen kann und darf. Dasselbe gilt auch für das Sozialgericht: Die Verpflichtung der Krankenkassen zur Gewährung von Kranken...

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