Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. unangemessene Verfahrensdauer. Krankmeldung des zuständigen Richters. pauschale Richterkrankenzeit von 3 Monaten entschädigungslose Zeit. Entschädigung ab dem 4. Monat trotz Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung durch das Gericht. Berücksichtigung des möglichen Eintretens längerfristiger Krankheiten in der Personalbedarfsplanung. unzureichende Personalausstattung des Gerichts. Passivmonate. keine weitere Stellungnahmezeit bei nicht zu erwartender Replik. Wechsel der Kammerzuständigkeit. Beantwortung von Sachstandsanfragen. sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. §§ 198 ff GVG idF des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV, juris: ÜberlVfRSchG).
2. Beruft sich der Beklagte im Entschädigungsverfahren darauf, dass Phasen der gerichtlichen Inaktivität auf eine Erkrankung des zuständigen Richters zurückzuführen sind, bedarf es weder einer Prüfung des Entschädigungsgerichts, ob der Richter tatsächlich dienstunfähig war, noch hat der Beklagte Dienstunfähigkeitsbescheinigungen vorzulegen oder die von den Ärzten gestellten Diagnosen bzw die erhobenen Befunde mitzuteilen. Für das Entschädigungsverfahren ist vielmehr allein maßgeblich, ob sich der Richter für den infrage stehenden Zeitraum krankgemeldet hatte und deshalb tatsächlich keinen Dienst getan hat. Für den Nachweis dieser Tatsache reicht es allemal aus, wenn der Beklagte Auszüge aus den Personalakten des Richters vorlegt, in denen die Zeiten der Dienstunfähigkeit vermerkt sind.
3. Wird einem Verfahren mutmaßlich deshalb kein Fortgang gegeben, weil der zuständige Richter erkrankt ist, hat ein Kläger Phasen der gerichtlichen Inaktivität, die ersichtlich mit der Krankmeldung des zuständigen Richters in Zusammenhang stehen, im Umfang von pauschal drei Monaten entschädigungslos hinzunehmen. Diese Frist steht den Gerichten unter Berücksichtigung der Forderungen nach einem zügigen Verfahren und nach einer richtigen Entscheidung sowie des Gebots des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 GG) zu, um - im Rahmen des § 21e Abs 3 S 1 GVG zulässige - Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens einzuleiten.
4. Darüber hinausgehend kann der Beklagte sich nicht damit exkulpieren, dass er die nach dem GVG zulässigen Maßnahmen eingeleitet hat. Führen eingeleitete Maßnahmen nicht zu der gewünschten Verfahrensbeschleunigung, ist vielmehr davon auszugehen, dass dies Folge einer nicht ausreichenden Personalausstattung ist (Weiterführung der Urteile des LSG Berlin-Potsdam vom 2.8.2013 - L 37 SF 252/12 EK AL = juris RdNr 48, vom 12.5.2015 - L 37 SF 37/12 EK VH = juris RdNr 177 und vom 25.2.2016 - L 37 SF 128/14 EK AL = juris RdNr 53 f).
Orientierungssatz
1. Das Sozialgericht darf nach Eingang einer Klageerwiderung nicht im Hinblick auf eine mögliche Stellungnahme des Klägers von weiteren Maßnahmen der Verfahrensförderung absehen, wenn im konkreten Fall eine solche offenkundig nicht zu erwarten ist (hier: weil der Beklagte sich in der Klageerwiderung lediglich auf die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden berufen hat, ohne sich weiter mit der Klagebegründung auseinanderzusetzen).
2. Ein Übergang des Verfahrens auf eine andere Kammer ist nicht als aktive Verfahrensförderung anzusehen (vgl BSG vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 1/13 R = BSGE 118, 91 = SozR 4-1720 § 198 Nr 7).
3. In der Beantwortung von Sachstandsanfragen ist keine aktive Verfahrensgestaltung zu erblicken.
Nachgehend
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin zuletzt unter dem Aktenzeichen S 62 AL 519/15 geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von 1.300,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 27. Dezember 2019 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat 40 %, der Kläger 60 % der Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Berlin zuletzt unter dem Aktenzeichen S 62 AL 519/15 geführten Klageverfahrens. Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 13. Februar 2015 erhob der - seinerzeit durch andere Bevollmächtigte vertretene - Kläger Klage gegen die Bundesagentur für Arbeit (im Folgenden: BA) und begehrte deren Verpflichtung zur Neubescheidung seines Antrages auf Erlass der ältesten ihn treffenden Darlehensschuld in Höhe von 376,60 Euro. Dieses Darlehen war dem Kläger, der seinerzeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bezog, vom Jobcenter zur Begleichung von Energieschulden gewährt worden. Nachdem das Sozialgericht in dem unter dem Aktenzeichen S 56 AL 519/15 registrierten Verfahren am 27. Februar 2015 den Eingang der ...