Entscheidungsstichwort (Thema)

Opferentschädigung. Sexueller Missbrauch. aussagepsychologisches Gutachten. Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

1. Der schädigende Vorgang als beweispflichtige Tatsache auf dem Gebiet der Opferentschädigung bedarf grundsätzlich des Vollbeweises. Ein Anscheinsbeweis ist dem sozialen Entschädigungsrecht fremd.

2. Im Opferentschädigungsrecht gelten nach § 6 Abs. 3 OEG die Beweiserleichterungen des § 15 S 1 KOVVfG. Sie kommen zum Tragen, wenn weder Unterlagen noch sonstige Beweismittel, insbesondere Zeugen, zu beschaffen sind und erlauben ausdrücklich Entschädigungsleistungen auf der Grundlage der Angaben des Antragstellers.

3. Die Frage, ob die Klägerin Opfer sexuellen Mißbrauchs geworden ist, ist keinem Beweis durch ein aussagepsychologisches Gutachten zugänglich. Ihre Beantwortung ist Aufgabe des Gerichts.

4. Als tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs 1 OEG ist grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen. In den Fällen des ohne körperliche Gewaltanwendung begangenen sexuellen Missbrauchs von Kindern wird ein tätlicher Angriff angenommen, weil den Opfern die Einwilligung zur Tat durch Täuschung entlockt wurde bzw. es den Opfern aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelte, Bedeutung und Tragweite ihrer Einwilligung zu erkennen.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Dezember 2007 geändert.

Der Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 15. April 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2004 verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2001 bis zum 30. November 2002 eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 sowie für die Zeit ab 1. August 2001 Heilbehandlung für die komplexe posttraumatische Belastungsstörung zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu 1/4 zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren ist.

Die 1968 geborene Klägerin beantragte im August 2001 bei dem Versorgungsamt II Berlin Entschädigungsleistungen nach dem OEG: Aufgrund sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater und dessen (inzwischen verstorbenen) Freund in der Zeit von 1975 bis 1988 leide sie unter psychischen Störungen und psychosomatischen Erkrankungen.

Zuständigkeitshalber wurde der Antrag an den Beklagten weitergeleitet. Dieser holte verschiedene Berichte der die Klägerin behandelnden Ärzte und Kliniken ein: Die Klägerin hatte sich im Juni 2000 in die Behandlung des Nervenarztes Dr. H begeben. Im August 2000 hatte sie sich einer ambulanten Psychotherapie bei dem Facharzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. M unterzogen. Wegen zunehmender Verunsicherung mit Ängsten, depressiver Verstimmung, Schuldgefühlen und dem wiederkehrenden Gefühl, sich fremd zu sein, hatte die Klägerin sich von Oktober bis Dezember 2000 in stationärer Behandlung im Gemeinschaftskrankenhaus H befunden. Im Februar 2001 hatte sie sich in die allgemeinmedizinisch-homöopathische Behandlung des Dr. J begeben, der im Befundbericht vom 8. August 2002 mitteilte, dass die Klägerin von einem sexuellen Missbrauch durch ihren Vater berichtet habe. In der Anamnese der W-Klinik vom 18. Juni 2001, in deren Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie sie von März bis Mai 2001 zur stationären Rehabilitation aufgenommen worden war, ist insbesondere ausgeführt: Die sexuellen Übergriffe des Vaters hätten nach der Trennung der Eltern begonnen. Als die Klägerin die Schule abgeschlossen habe, sei sie in einem landwirtschaftlichen Betrieb zur Ausbildung untergebracht gewesen, wo sie der sexuellen Traumatisierung ihres Vorgesetzten und seiner beiden Söhne ausgesetzt gewesen sei. Die Klägerin quäle sich mit Selbstvorwürfen, weil die Übergriffe seitens des Vaters erst relativ spät stattgefunden hätten - seinerzeit sei sie 17 Jahre alt gewesen - und sie dem Vater keine bzw. nicht rechtzeitig Grenzen gesetzt habe. Dr. M berichtete im Arztbrief vom 28. August 2002, dass seit der stationären Behandlung im Jahr 2001 mehr und mehr Erinnerungen aufgetaucht seien, die darauf hinwiesen, dass es sexuelle Traumatisierungen vermutlich auch in früher Kindheit, d.h. im fünften/sechsten Lebensjahr, gegeben habe. Von September bis November 2002 hielt die Klägerin sich erneut in der Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie W-Klinik zur stationären Rehabilitation auf.

Zu dem Missbrauch während ihrer Ausbildung wollte die Klägerin gegenüber dem Beklagten keine Angaben machen wolle, da dies sie zu sehr belasten würde. Zu der Frage nach der Art der übrigen sexuellen Tathandlungen führte sie aus, dass es mit ihrem Vater zu keinem Geschlechtsverkehr, sondern nur zur Befriedigung mit der Hand gekommen sei. Hinsichtlich des F...

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