Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. haftungsausfüllende Kausalität. Tinnitus als Folge einer bei einem Verkehrsunfall erlittenen HWS-Distorsion

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung einer geltend gemachten Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls ist erforderlich, dass diese mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Das ist dann der Fall, wenn die Gründe für eine solche Kausalität die dagegen sprechenden deutlich überwiegen.

2. Ein Tinnitus als Folge eines Schleudertraumas der Hals-Wirbelsäule ist nur dann wahrscheinlich, wenn gleichzeitig andere objektivierbare pathologische Befunde auftreten, wie zB eine messbare Hörstörung, objektivierbare Gleichgewichtsstörungen, neurologische Ausfälle oder eine Schädelbasisfraktur. Ein Tinnitus als alleiniges Symptom lässt sich regelmäßig nicht als Unfallfolge begründen.

3. Hat das Ausmaß der unfallbedingten HWS-Distorsion lediglich im leichten Bereich gelegen, so kann nach medizinischen Erkenntnissen ein traumatisch bedingter Tinnitus überhaupt nicht oder nur im Zusammenhang mit weiteren Schäden der Hör- und Gleichgewichtsorgane bzw neurologischen Ausfällen auftreten.

4. Führen erlittene HWS-Distorsionen zu Symptomen am Gehör, etwa in Form eines Tinnitus, so treten diese entweder sofort nach dem Unfall oder mit einem Intervall von einigen Stunden auf. Je länger das beschwerdefreie Intervall nach dem Unfall war, desto weniger wahrscheinlich ist, dass der Unfall die wesentliche Ursache für das Beschwerdebild ist. In einem solchen Fall fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit dafür, dass der geltend gemachte Tinnitus seine maßgebliche Ursache in dem Unfallereignis hat.

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 23. November 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der 1962 geborene Kläger betreibt seit Januar 2007 das Taxiunternehmen D, S. Er ist bei der Beklagten seit dem 18. Januar 2007 als selbstständiger Unternehmer gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Verbindung mit § 44 Abs. 1 der Satzung der Beklagten pflichtversichert.

Am 23. Januar 2009 erlitt der Kläger einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, bei dem er mit seinem Fahrzeug frontal auf einen, ihm die Vorfahrt nehmenden Pkw bei ungebremster Geschwindigkeit von 50 km/h prallte. Am 25. Januar 2009 stellte der Kläger sich bei Dr. S vor, der in seinem Durchgangsarzt (DA)-Bericht vom selben Tag als Diagnose einen Muskelhartspann im Bereich der Halswirbelsäule (HSW) und Schmerzen beidseits der Lendenwirbelsäule (LWS) aufführte. Grob neurologisch und motorisch seien keine Auffälligkeiten feststellbar, aktuell allenfalls geringe Kopfschmerzen. Nach dem Unfall seien keine Übelkeit, kein Erbrachen, kein Schwindel aufgetreten. Zum Unfallhergang gab der Kläger an, dass der Airbag sich bei dem Auffahrunfall nicht ausgelöst habe und er mit dem Kopf auch nirgendwo angeprallt sei. Bewusstlosigkeit habe nicht bestanden, unter Einnahme von Paracetamol 500 mg hätten sich die Beschwerden gebessert.

Am 28. Januar 2009 suchte der Kläger den Facharzt für Chirurgie Dr. B auf, der ein HWS-Distorsionstrauma I. Grades ohne neurologische Auffälligkeiten diagnostizierte (H-Arzt-Bericht vom 28. Januar 2009).

Am 26. Februar 2009 suchte der Kläger den Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (HNO) Dr. G auf, der einen dekompensierten, auskultatorisch nicht objektivierbaren Tinnitus auris rechts bei Hochton-Schallempfindungsschwerhörigkeit rechts nach HWS-Schleudertrauma diagnostizierte und vermerkte, dass der Kläger den Tinnitus rechts erst nach einigen Tagen richtig bemerkt habe und keine Hörminderung und kein Schwindelgefühl bestünden. Hergang und Befund würden gegen die Annahme eines Arbeitsunfalles sprechen. Von Dr. G veranlasste Röntgenaufnahmen der HWS des Klägers vom 12. März 2009 ergaben eine Osteochondrose mit Verschmälerungen der Intervertebralräume gering bei HWK 5/6 und deutlicher bei HWK 6/7, dort auch eine Arthrose mit geringer dorsaler Kantenausziehung und Spondylosis deformans. Ein Nachweis einer bei dem Auffahrunfall erlittenen Fraktur oder knöchernen Destruktion wurde nicht festgestellt. Dr. B führte dazu aus, dass die Röntgenaufnahme der HWS bis auf eine Streckhaltung keine traumatischen, aber beginnende degenerative Veränderungen aufweise. Der Kläger klage weiterhin über einen posttraumatischen Tinnitus rechts ohne Gleichgewichtsstörungen.

Die Beklagte veranlasste die Einholung einer Stellungnahme ihres Beratungsarztes Dr. B, der bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen der HWS einen verzögerten Heilungsverlauf für möglich hielt, einen Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tinnitus jedoch ablehnte.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juli 2009 es ab, den Tinnitus als Folge des Arbeitsunfalles vom 23. Januar 2009 anzuerkennen; insofern bestehe ...

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