Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Unfallfolgen. HWS-Distorsion. chronischer Tinnitus. Hyperakusis. Normalhörigkeit
Orientierungssatz
1. Folge einer unfallbedingten HWS-Distorsion kann auch das Auftreten eines Tinnitus sein.
2. Für die Kausalität leichter Distorsionen der HWS gilt: je länger das beschwerdefreie Intervall nach dem Unfall und je protrahierter der Verlauf mit Ausweitung der Symptomatik später war, desto weniger wahrscheinlich ist, dass der Unfall die alleinige und wesentliche Ursache für das Beschwerdebild war.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Neuruppin vom 30. April 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 05. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Februar 2006 geändert und festgestellt, dass der Tinnitus links auch über den 31. Juli 2004 hinaus Folge des Arbeitsunfalls vom 20. November 2003 ist. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Feststellung weiterer Folgen eines Arbeits- / Wegeunfalls vom 20. November 2003.
Die 1986 geborene Klägerin befand sich am 20. November 2003 im ersten Lehrjahr zur kaufmännischen Fremdsprachenassistentin und war Schülerin am B-S Bildungszentrum. Am 20. November 2003 um 8:05 Uhr befand sie sich morgens als Beifahrerin in einem Pkw auf dem Weg zur Schule. An der Ecke W Straße/ Sstraße bremste das vorausfahrende Fahrzeug stark, so dass der Fahrer des Fahrzeugs, in dem die Klägerin saß, ebenfalls stark bremsen musste. Daraufhin fuhr das hinter ihnen befindliche Fahrzeug auf. An dem Fahrzeug, in dem die Klägerin saß, entstand wirtschaftlicher Totalschaden (Kfz-Gutachten des Dipl.-Ing. W vom 21. November 2003). Die Klägerin setzte den Schulweg nicht fort und begab sich um 10:27 Uhr in durchgangsärztliche Behandlung bei dem Orthopäden Dr. D. Dort klagte sie über Übelkeit, ein Piepen auf dem linken Ohr sowie einen Druckschmerz oberhalb des Processus spinosus HWK 7. Erbrechen und Bewusstlosigkeit traten nicht ein, neurologische Defizite lagen nicht vor. Die Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule (HWS) ergab keine knöcherne Verletzung. Dr. D diagnostizierte eine HWS-Distorsion sowie einen posttraumatischen Tinnitus und bescheinigte Arbeitsunfähigkeit ab dem 20. November 2003 (Durchgangsarztbericht ≪DAB≫ vom 20. November 2003). Am 21. November 2003 klagte die Klägerin über einen deutlichen Druckschmerz im Bereich des linksseitigen Kiefergelenks mit fehlender linksseitiger vollständiger Occlusion, weshalb Dr. D einen Verdacht auf Kiefergelenksläsion links äußerte (DAB vom 21. November 2003).
Auf Eigeninitiative stellte sich die Klägerin am 20. November 2003 außerdem bei dem Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohren- (HNO-)Heilkunde Dr. L vor, wo sie über Tinnitus und Hörminderung links klagte. Dr. L stellte ein grenzwertiges Normgehör links und eine Normakusis rechts fest und leitete eine Infusionstherapie ein, die wegen Unverträglichkeit jedoch abgebrochen werden musste. Des Weiteren stellte Dr. L ein Kiefergelenkshämatom fest (vgl. den Bericht vom 05. Dezember 2003). Eine Vorstellung der Klägerin in der C am 21. November 2003 ergab die Diagnose einer Kiefergelenksprellung links. Im Röntgenbild fand sich kein Anhalt für eine Fraktur (Nachschaubericht vom 24. November 2003 und Bericht vom Dezember 2003). Am 26. November 2003 bestanden nach Abnahme der Schanz'schen Krawatte noch schmerzhafte Bewegungseinschränkungen der HWS und des Kopfes ohne neurologische Auffälligkeiten (Zwischenbericht Dr. D vom selben Tag). Am 08. Dezember 2003 waren die Beschwerden seitens des linken Kiefergelenks bis auf geringe Restbeschwerden verschwunden (Zwischenbericht des Dr. D vom selben Tag).
Am 16. Januar 2004 stieß sich die Klägerin an einem Waschbecken den Kopf, woraufhin subjektiv eine Verstärkung des Tinnitus sowie der Hörminderung links eintrat. In der C wurde am selben Tag eine geringgradige Hochtonsenke bei 3 kHz bis maximal 30 dB links festgestellt (Erste-Hilfe-Berichte der C vom 16. Januar 2004 sowie Bericht der Frau Dipl.-Med. C vom 15. September 2004). Am 27. Januar 2004 begab sich die Klägerin in HNO-ärztliche Behandlung bei Frau Dipl.-Med. C, die einen chronifizierten Tinnitus als Unfallfolge feststellte (Bericht vom 27. Januar 2004). Außerdem stellte sie linksseitig einen Hochtonschrägabfall ab 2 kHz bis maximal 45 dB bei 6 kHz sowie einen Abfall im Tieftonbereich von 50 dB bei 125 kHz fest (Bericht der Frau Dipl.-Med. C vom 15. September 2004). Am 02. Februar 2004 wurde die Klägerin in die stationäre Behandlung des Unfallkrankenhauses B (UKB) aufgenommen zur Infusionstherapie des Tinnitus. Dort fand sich neben einem hochfrequenten Tinnitus linksseitig eine pantonale Hörminderung bei 20 dB links, wobei die transitorisch evozierten otoakustischen Emissionen (TEOAE) in allen Frequenzen reproduzierbar ware...