Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Anforderungen an die Begutachtung zur Feststellung eines Grades der Behinderung. Auswirkungen der Verweigerung einer gutachterlichen Untersuchung durch einen Betroffenen. Funktionsbeeinträchtigungen. Medizinische Beweiswürdigung. Mitwirkungsobliegenheit

 

Orientierungssatz

1. Eine Begutachtung zur Feststellung eines Grades der Behinderung kann nicht nur von den Angaben des Betroffenen ausgehen, sondern muss diese objektivieren.

2. Verweigert ein Betroffener im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung die Begutachtung durch einen Sachverständigen, so geht die Nichterweislichkeit möglicher Gesundheitsbeeinträchtigungen zu seinen Lasten.

 

Normenkette

SGB IX § 69 Abs. 1, 3, § 2; BVG § 30

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2012 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des gesamten Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB).

Auf den Antrag der 1951 geborenen Klägerin vom 23. Februar 2007 stellte der Beklagte bei ihr mit Bescheid vom 11. Mai 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. November 2008 einen GdB von 30 fest. Hierbei ging er von folgenden (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewerteten) Funktionsbeeinträchtigungen aus:

a) psychosomatische Störungen, Gleichgewichtsstörungen, Kopfschmerz (20),

b) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks (20),

c) Ohrgeräusche (10),

d) Bluthochdruck, Hämaturie-Syndrom (10).

Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin zunächst die Feststellung eines GdB von mehr als 30 begehrt und hierzu u.a. den Arztbrief des sie seit April 2008 behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. F vom 22. November 2008 eingereicht.

Der Beklagte hat nach Auswertung dieses Berichts den Einzel-GdB für die psychischen Leiden auf 30 erhöht und mit Bescheid vom 21. August 2009 bei der Klägerin mit Wirkung ab April 2008 einen Gesamt-GdB von 40 festgesetzt. Auf die Bitte des Sozialgerichts, einen bestimmten Klageantrag zu formulieren, hat die Klägerin klargestellt, einen Gesamt-GdB von 50 zu verfolgen.

Neben Befundberichten hat das Sozialgericht das Gutachten des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. H vom 19. September 2011 eingeholt, der die von ihm festgestellten Funktionsstörungen

a) Funktionsbeeinträchtigung der Hals- und Lendenwirbelsäule auf der Basis von degenerativen Veränderungen mit daraus resultierender chronischer schmerzhafter Bewegungseinschränkung (30),

b) psychische Erkrankung mit Depression und Angst sowie chronischer Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (30),

c) Ohrgeräusche (10),

d) Bluthochdruck, Hämaturie-Syndrom (10)

mit einem Gesamt-GdB von 40 ab Februar 2007 bewertet, jedoch eine weitere Aufklärung hinsichtlich der psychosomatischen Seite des Krankheitsbildes für erforderlich gehalten hat. Daraufhin hat das Sozialgericht das Gutachten der Fachärztin für Anaesthesie Dr. B vom 30. April 2012 eingeholt, die - u.a. unter Berücksichtigung einer Persönlichkeitsänderung bei chronischem Schmerz (Einzel-GdB von 50 bis 60), eines HWS/LWS-Schmerzsyndroms (Einzel-GdB von 30 bis 40), einer Fibromyalgie (Einzel-GdB von 50 bis 70), einer rezidivierenden depressiven Störung (Einzel-GdB von 30 bis 40), einer generalisierten Angststörung (Einzel-GdB von 30 bis 40) und einer posttraumatischen Belastungsstörung (Einzel-GdB von 30 bis 40) - den Gesamt-GdB mit 50 eingeschätzt hat.

Mit Urteil vom 3. Dezember 2012 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, bei der Klägerin einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Da bei der Klägerin weder schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt noch mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorlägen, komme ein höherer Einzel-GdB als 20 allein für die Bewegungseinschränkung im Funktionssystem Rumpf nicht in Betracht. Allerdings sei dieser Einzel-GdB auf 30 zu erhöhen, weil dem Gutachten der Sachverständigen Dr. B zu entnehmen sei, dass die Klägerin an Schmerzen leide, die über das übliche Maß hinausgingen. Im Hinblick auf den Einzel-GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigungen im psychischen Bereich sei ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden.

Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte Berufung bei dem Landessozialgericht mit der Begründung eingelegt, dass eine über das übliche Maß hinausgehende Schmerzhaftigkeit nicht gegeben sei.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Anaesthesiologie Dr. B vom 20. Dezember 2013, der nach Untersuchung der Klägerin keine Aspekte außergewöhnlicher Schmerzen und/oder seelischer Begleiterscheinungen hat erkennen können.

Im Hinblick auf den von ...

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