Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Pflegegeld gem § 44 SGB 7. Hilflosigkeit. zum Nachweis der Ursachenzusammenhänge. Ermittlung des Pflegebedarfs. Rückgriff auf den Verrichtungskatalog des § 14 Abs 4 SGB 11. Bemessung der Pflegegeldhöhe. Mindestmonatsbetrag bei dem Grunde nach bestehendem Pflegegeldanspruch. Arbeitsunfall. Wesentliche Bedingung. Konkurrierende Ursache. Medizinische Beweiswürdigung. Oberschenkelamputation. Nebenleiden. Ermessen

 

Orientierungssatz

1. Die Bewilligung von Pflegegeld nach § 44 Abs 1 SGB 7 setzt voraus, dass der Versicherte infolge des Versicherungsfalls so hilflos ist, dass er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang der Hilfe bedarf. Der Pflegebedarf wird entsprechend dem Verrichtungskatalog des § 14 Abs 4 SGB 11 ermittelt (vgl BSG vom 26.6.2001 - B 2 U 28/00 R = SozR 3-2700 § 44 Nr 1).

2. Das schädigende Ereignis muss nicht die alleinige oder überwiegende Bedingung für die entstandene Hilflosigkeit sein. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich (vgl BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R = BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17).

3. Sind die Voraussetzungen für Pflegegeld dem Grunde nach gegeben, ohne dass sich der Pflegegeldanspruch schon genau beziffern lässt, ist der Unfallversicherungsträger zur Zahlung von Pflegegeld in Höhe des gesetzlich vorgegebenen Mindestmonatsbetrags zu verurteilen.

 

Normenkette

SGB VII § 44 Abs. 1-2, § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 1; SGB XI § 14 Abs. 4, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juli 2010 sowie der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 18. April 2008 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin von S wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 25. Juni 1965 ab dem 17. Januar 2008 bis zum 28. Mai 2013 Pflegegeld in Höhe des Mindestbetrags nach § 44 Abs. 2 SGB VII zu gewähren, und im Übrigen verpflichtet, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte erstattet der Klägerin deren notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt als Sonderrechtsnachfolgerin des 1940 im ehemaligen Jugoslawien geborenen, zuletzt in Bosnien-Herzegowina und Kroatien wohnhaft gewesenen und am 28. Mai 2013 verstorbenen S (Versicherter) von der Beklagten Pflegegeld wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls.

Der Versicherte erlitt am 25. Juni 1965 während seiner Beschäftigung in Deutschland als Bauhilfsarbeiter einen von der Beklagten anerkannten Arbeitsunfall, als er beim Ausschachten eines Grabens von einer umstürzenden Betonmauer begraben wurde und sich hierbei eine Rissquetschung des rechten Oberschenkels zuzog; es wurde eine primäre hohe Oberschenkelamputation durchgeführt, vgl. Unfallanzeige vom 28. Juni 1965 und Durchgangsarztbericht vom 28. Juni 1965. Die Amputation war durch die schwere Zertrümmerung des rechten Beines mit erheblicher Verschmutzung durch Erde und den schlechten Allgemeinzustand des Versicherten (erheblicher Blutverlust mit schlecht beeinflussbarem Schockzustand) erforderlich geworden, vgl. sog. Erstes Rentengutachten von Dr. H vom 03. Mai 1967. Laut dem Ersten Rentengutachten kam es ferner postoperativ zu einer erheblichen Stumpfschwellung und Abstoßung nekrotischer Stumpfteile, wobei auch ein doppelt handtellergroßer Hautbezirk abgestoßen wurde; der Defekt wurde mit Reverdinläppchen und mit einer Thierschplastik gedeckt, welche gut angingen. Im Ergebnis war der Oberschenkel zur Hälfte amputiert worden; es fanden sich rund vier Monate später eine ausreichende Weichteilpolsterung und im Bereich des Stumpfes mehrere teilweise stark eingezogene frische und gering druckempfindliche Narben, zwischen denen ein gut handtellergroßer Bezirk mit Thierschlappen gedeckt war, welche gut angeheilt waren, vgl. Nachschaubericht vom 27. September 1965. Der Versicherte wurde laut dem Ersten Rentengutachten nach völliger Epithelisierung des Stumpfes zunächst im November 1965 und im Juli 1966 jeweils auf Kosten der Beklagten mit einer Prothese (Oberschenkelkunstbein aus Holz, vgl. etwa Rechnung der Orthopädischen Werkstätte A. K vom 13. Oktober 1965) versorgt; wegen Druckstellen und entzündlichen Erscheinungen im Bereich des Prothesenansatzes waren Verordnungen von Bädern und Gehschule sowie Salbenbehandlung notwendig. Bei der Untersuchung zum Ersten Rentengutachten am 04. April 1967 war die Belastung des Stumpfes noch schmerzhaft. Laut fachärztlichem Zwischenbericht der Dres. H und M vom Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus - Chirurgische Klinik - F vom 05. September 1967 sollte die Arbeitsfähigkeit nach Abschluss des Heilverfahrens am 15. September 1967 wieder eintreten und wurde eine Minderung d...

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