Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. Brückensymptome. Konkurrenzursache. Enzephalopathie. Polyneuropathie. hirnorganisches Psychosyndrom. Alkohol. chronische Schwefelkohlenstoffintoxikation

 

Leitsatz (amtlich)

Besteht eine Latenzperiode zwischen Expositionsende und Auftreten der ersten Krankheitssymptome von 25 Jahren, ohne dass in dieser Zeit Brückensymptome festzustellen waren, kann ein Ursachenzusammenhang zwischen Exposition und Erkrankung nicht bejaht werden, wenn es darüber hinaus auch noch an wissenschaftlichen Erfahrungen über Langzeitfolgen und Latenzintervalle bei chronischen Schwefelkohlenstoffintoxikationen fehlt.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 15. Juni 2004 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Polyneuropathiesyndroms sowie eines hirnorganischen Psychosyndroms als Berufskrankheit nach Nr. 1305 (Erkrankungen durch Schwefelkohlenstoff) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; im weiteren Text: BK Nr. 1305), beziehungsweise der BK Nr. 17 der Berufskrankheiten-Verordnung der ehemaligen DDR (BKVO/DDR).

Die 1938 geborene Klägerin hat unter anderem von 1959 bis 1974 als HKZ-(Halb Kontinuierliche Zentrifugalspinnmaschine) Fahrerin im VEB Chemiefaserwerk F in P gearbeitet. Von 1974 bis 1979 war sie in diesem Betrieb als Gartenarbeiterin, Werkzeugausgeberin, Küchenhilfe beziehungsweise Hausmeister/-verwalter tätig. Von 1979 bis 1982 hat sie als Melkerin und von 1982 bis 1994 als Gärtnerin gearbeitet. Danach war sie arbeitslos.

Am 1. März 1999 zeigte die Fachärztin für Arbeitsmedizin Dr. B der Beklagten den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit an und führte unter anderem aus, die Klägerin leide unter einem Taubheitsgefühl in Armen und Beinen beidseits, einem Kribbeln in den Armen sowie Schmerzen und kalten Füßen. Es liege eine Erkrankung durch Schwefelkohlenstoff vor. Sie führe diese auf ihre Tätigkeit in einem Spinnsaal für Kunstseide zurück. Die Klägerin leide unter den Vorerkrankungen Magendurchbruch mit zwei Drittel Magenresektion, Gallenoperation und Alkoholentziehung.

Die Beklagte holte eine Auskunft des Nachfolgebetriebes des VEB Chemiefaserwerk F der M AG, P, zur Tätigkeit der Klägerin von 1959 bis 1974 als Maschinenfahrerin ein, aus der sich ergab, dass die Klägerin während dieser Zeit den Spinnkuchen aus den Spinnzentrifugen abnehmen, Einstrumpfen und für den Transport auf speziellen Wagen fertig machen musste. Zu ihren Aufgaben gehörte die ständige Kontrolle an den Spinnmaschinen. Beim Spinnprozess wurde Schwefelkohlenstoff freigesetzt, der sich ständig in der Raumluft der Spinnerei befand. In der Spinnerei standen 237 Spinnenmaschinen. Die Klimahaltung erfolgte über Be- und Entlüftungsanlagen. Die Zuführung von Frischluft und Absaugung der Abluft erfolgte auch innerhalb der Maschinen. Ein Maschinenfahrer hatte circa acht Maschinen zu bedienen. Konzentrationsmessungen hinsichtlich der Beladung der Raumluft mit entstehenden Schadstoffen wurden durchgeführt. Die Be- und Entlüftungsanlagen in der Spinnerei und in den Spinnmaschinen wurden mit dem Anfahren der Anlage in Betrieb genommen. Es gab entsprechende Arbeits- und Bedienungsanweisungen. Belehrungen wurden durchgeführt. Die vorgeschriebene Schutzausrüstung für die Spinnereiarbeiter bestand aus einem säurefesten Schutzanzug sowie Gummischuhen (Igelitschuhen). Beides wurde von den Arbeitern auch getragen. Es gab besondere Wasch- und Duschzeiten für die Spinnereiarbeiter.

Der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten führte unter dem 21. Mai 1999 unter anderem aus, die Klägerin sei von 1959 bis 1974 in der Reganspinnerei als Maschinenfahrerin tätig gewesen. Bei der Reganspinnerei handle es sich um eine Halle mit den Abmaßen von circa 40 m mal 70 m mal 20 m, in welcher sich 238 Spinnmaschinen befinden. Die Spinnmaschinen seien die Hauptemissionsquellen für die Schadstoffe CS 2 (Schwefelkohlenstoff)und H 2 S (Kohlenwasserstoff). Bei der Fadenherstellung würden hier 83 % des eingesetzten Schwefelkohlenstoffs als Luftschadstoffe CS 2 und H 2 S frei. Die Spinnmaschinen seien nicht gekapselt und entsprächen damit nicht dem Stand der Technik. Dadurch gelange ein großer Teil der Schadstoffe aus den Maschinen in den Spinnsaal. Der hohe Schadstoffausstoß an den Spinnmaschinen werde durch eine Besonderheit des Verfahrens bewirkt - den Waschprozess des Einzelfadens an der Maschine. Dazu werde die obere Entsäuerungswalze mit Wasser berieselt. Hier werde der Großteil des eingesetzten CS 2 frei und das im oberen Maschinenbereich, also in der Hauptarbeitshöhe des Personals. Ein bedeutender Teil gelange durch die Zentrifugalkräfte zur Koagulations- und Entsäuerungwalze in den Spinnsaal und werde durch die Maschinenabsaugung nicht direkt erfasst. Das bedeute eine hohe Raumluftbeladung. In den ...

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