Entscheidungsstichwort (Thema)

Eine gelegentliche Harninkontinenz rechtfertigt nicht das Merkzeichen RF. Nachteilsausgleich. Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht. Öffentliche Veranstaltung. Gleichbehandlung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die landesrechtlichen Regelungen über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht aus gesundheitlichen Gründen sind durch die bundesrechtliche Ermächtigungsgrundlage in § 126 Abs. 1 SGB IX gedeckt.

2. Die Zuerkennung des Merkzeichens “RF” setzt voraus, dass der Schwerbehinderte wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Es genügt nicht, wenn nur die Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen bestimmter Art beeinträchtigt ist.

 

Orientierungssatz

1. Die landesrechtlichen Vorschriften über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verstoßen nicht gegen die bundesrechtliche Ermächtigungsnorm des § 126 Abs. 1 SGB 9 (Anschluss an GSG, Urteil vom 08.11.2007, B 9/9a SB 3/06 R).

2. Für die Auslegung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) sind weiter die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2005 Nr. 33 (AHP 2005) maßgebend, auch wenn die Nummer 33 in den AHP 2008 nicht mehr aufgeführt ist.

3. Die Voraussetzung des Merkzeichens RF, dass der Behinderte öffentliche Veranstaltungen nicht in zumutbarer Weise besuchen kann, ist nur erfüllt, wenn er wegen seines Leidens allgemein und umfassend vom Besuch öffentlicher Zusammenkünfte ausgeschlossen ist, also allenfalls an einem nicht nennenswerten Teil der Gesamtzeit solcher Veranstaltungen teilnehmen kann; er muss praktisch an das Haus gebunden sein.

4. Eine gelegentliche Harninkontinenz, wegen der Vorlagen getragen werden, erfüllt nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF.

 

Normenkette

SGB IX § 69 Abs. 1, 4-5

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. April 2007 wird zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen “RF„).

Die 1956 geborene Klägerin leidet an Multipler Sklerose (MS). Durch Bescheid vom 19. Januar 2001 hatte der Beklagte zuletzt aufgrund der Behinderung “organisches Nervenleiden„ einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen “B„ (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel), “aG„ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und “T„ (Telebusberechtigung) anerkannt. Im August 2005 stellte die Klägerin einen Verschlimmerungsantrag, dem sie einen Entlassungsbericht des S-Krankenhauses B über eine vom 03. bis 09. August 2005 durchgeführte stationäre Behandlung beifügte, in dem u. a. eine neurogene Blasenstörung bei bekannter Dranginkontinenz diagnostiziert ist, sowie Unterlagen über die Zuerkennung der Pflegestufe I aus der sozialen Pflegeversicherung. Hier war in einem Gutachten der Gesellschaft für medizinische Gutachten MEDICPROOF vom 03. Dezember 2004 u. a. eine “gelegentliche„ Harninkontinenz festgestellt worden, die mit Vorlagen versorgt werde. Der Beklagte holte einen Befundbericht des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. H vom 06. Januar 2006 und eine versorgungsärztliche Stellungnahme ein und erkannte durch Bescheid vom 23. Februar 2006 einen Gesamt-GdB von 90 an. Die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ lehnte er ab.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, mit dem sie erneut darauf hinwies, dass ihr die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auch bei rollstuhlgerechten Bedingungen wegen ihrer Blaseninkontinenz nicht möglich sei. Aufgrund dieses Leidens verlasse sie die Wohnung nur, wenn es unbedingt erforderlich sei, z. B. für unabdingbare Arztbesuche. Lediglich die Treffen der MS-Selbsthilfegruppe nehme sie wahr, wobei ihr die Telebusberechtigung häufig eine große Hilfe sei.

Der Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie G mit Widerspruchsbescheid vom 28. August 2006 zurück. Das Merkzeichen “RF„ setze voraus, dass man an öffentlichen Veranstaltungen “ständig nicht teilnehmen könne„, eine Teilnahme dürfe also auf Dauer nicht möglich sein, was im Falle der Klägerin nicht der Fall sei.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Gerichtsbescheid vom 13. April 2007 aus Rechtsgründen abgewiesen, da es an einer gültigen Anspruchsnorm fehle, die im Zusammenhang mit der Rundfunkgebührenbefreiung einen Nachteilsausgleich nach dem Schwerbehindertenrecht in rechtlich zulässiger Weise begründen könnte.

Gegen diesen am 23. April 2007 zugegangenen Gerichtsbescheid richtet sich die am 15. Mai 2007 eingegangene Berufung der Klägerin, die vorträgt, dass vor Ablehnung des Merkzeichens “RF„ eine Anhörung erfo...

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