Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Schädigung in der Kindheit. Vernachlässigung eines Kleinkindes in einem Krankenhaus. kräftiges Schütteln zur Ruhigstellung. Berücksichtigung der damaligen Maßstäbe zum Züchtigungsrecht
Orientierungssatz
1. Ist ein kleines Kind während einer erforderlichen Krankenhausbehandlung einem lieblosen Klima, der Gleichgültigkeit des Pflegepersonals, der Verweigerung von Hilfe, der strengen Rationierung der Getränke sowie Verspottungen ausgesetzt, so fehlt es hierbei an dem Erfordernis der für einen tätlichen Angriff nach § 1 OEG erforderlichen körperlichen Einwirkung bzw an der feindseligen Absicht.
2. Soweit in den sechziger Jahren ein Kind in einem Krankenhaus zur Ruhigstellung kräftig an den Handgelenken geschüttelt worden ist, müssen im Hinblick auf die Voraussetzungen für eine Gewaltopferentschädigung die damaligen Maßstäbe zum Züchtigungsrecht berücksichtigt werden.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.
Die am … 1962 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt insbesondere wegen einer beinbetonten Tetraspastik behindert. Im Zeitraum vom 23. Oktober 1965 bis zum 4. November 1965 wurde sie wegen dieser Gesundheitsstörung stationär im Städtischen Krankenhaus H2 behandelt. In den Jahren 1971 und 1973 folgten mehrere weitere stationäre Behandlungen im Universitätskrankenhaus E. in H ... Die Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und führt die Merkzeichen "G", "aG", "B", "H" und "RF".
Am 4. August 2011 beantragte die Klägerin beim Versorgungsamt der Freien und Hansestadt Hamburg, welches diesen Antrag zuständigkeitshalber an den Beklagten weitergab, die Gewährung von Versorgung nach dem OEG. Sie habe während ihrer Krankenhausaufenthalte als Kind massive Gewalt, Rohheit und Vernachlässigung erfahren, wodurch sie traumatisiert worden sei. Nachdem in den Medien viel über Menschen mit Gewalterfahrungen in kirchlichen Einrichtungen berichtet worden sei und sie sich in deren Beschreibungen wiedergefunden habe, habe sie sich mit ihren eigenen Erinnerungen auseinandergesetzt. Die Klägerin reichte ein 19-seitiges Erinnerungsprotokoll vom 23. Juli 2011 ein, in welchem sie unter anderem folgendes ausführte: Bei dem Aufenthalt im Krankenhaus H2 sei sie drei Jahre alt gewesen. Sie habe von den Füßen bis zum oberen Rippenbogen in Gips gelegen und sich kaum bewegen können. Die Kinder auf der Station seien den ganzen Tag sich selbst überlassen gewesen; man habe sich nicht weiter um sie gekümmert. Da sie selber nicht habe klingeln können, habe sie geweint, wenn etwas gewesen sei. Die verantwortliche Schwester namens "T." sei dann hereingekommen, habe sie brutal an den Handgelenken gepackt und ihre Arme zunächst hochgezogen und dann mit voller Wucht auf die Matratze zurückgestoßen. Dies habe sie mit so großer körperlicher Kraft getan, dass die damit verbundene körperliche Erschütterung durch den gesamten Körper der Klägerin gelaufen sei. Dazu habe sie immer wieder geschrien: "Hast du mich verstanden, hast du mich verstanden ...!" Man sei so lange angeschrien worden, bis man verstummt sei. Im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt habe sie - die Klägerin - wegen der Szenen mit "T." etwa zwei Jahre lang Albträume und große Angst vor Dunkelheit und dem Alleinsein gehabt. Wenn die Eltern morgens in den Stall gemusst hätten, habe sie panische Angst gehabt und aus vollem Hals geschrien. Deshalb sei ihr immer mal wieder der Hosenboden stramm gezogen worden bzw. sie sei mit dem hölzernen Kochlöffel versohlt worden; es habe ordentlich Haue gegeben. "T." habe sie außerdem verspottet, wenn sie - was mangels ausreichender Blasenkontrolle häufig vorgekommen sei - Urin verloren habe. Sie erinnere auch, dass es im Krankenhaus extrem wenig zu trinken gegeben habe, in der Regel nur zum Essen einen Becher Milch. Sie habe daher ein ständiges Durstgefühl gehabt. Als der Gips endlich entfernt worden sei, habe der Arzt ihr dabei ins Bein geschnitten, welches ordentlich geblutet habe.
Bei der Aufnahme ins U. im September 1971 habe sie sich sehr verunsichert und allein gelassen gefühlt. Nach der Operation habe sie starke Schmerzen gehabt, aber dagegen keine Medikamente bekommen. Das Personal sei sehr unfreundlich gewesen; niemand habe sie getröstet. Die Fäden seien zu spät gezogen worden. Um häufige Toilettengänge zu vermeiden, habe sie nur dreimal täglich einen Becher zu trinken bekommen. Nachdem sie lange Zeit im Gips auf dem Rücken gelegen hatte, habe sie plötzlich starke Schmerzen in den Fersen verspürt. Trotzdem habe zunächst niemand etwas unternommen. Erst durch Zufall sei festgestellt worden, dass sie sich einen Dekubitus 4. Grades an beiden Fersen zugezogen hatte, dessen Heilung...