Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Nachweis einer hauptberuflich selbständigen Tätigkeit als Voraussetzung der Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Krankenversicherung
Orientierungssatz
1. Eine selbständige Tätigkeit ist dann hauptberuflich, wenn sie von der wirtschaftlichen Bedeutung und dem zeitlichen Aufwand her die übrigen Erwerbstätigkeiten zusammen deutlich übersteigt und den Mittelpunkt der Erwerbstätigkeit darstellt (Anschluss an BSG vom 29.4.1997 - 10/4 RK 3/96 = SozR 3-5420 § 3 Nr 2).
2. Daran fehlt es, wenn eine als Betreiberin eines Unternehmens geführte Person in Vollzeit als Friseurin beschäftigt ist und darüber hinaus Kinder und Haushalt betreut.
3. Die Annahme einer hauptberuflich selbständigen Erwerbstätigkeit setzt eine tatsächliche Tätigkeit und nicht bloß eine formale Stellung voraus. Die Regelung dient der Missbrauchsabwehr und ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen.
4. Der zeitliche Aufwand stellt wie bei der Rechtslage vor Einführung des § 5 Abs 5 S 2 SGB 5 neben der wirtschaftlichen Bedeutung ein maßgebliches Kriterium für die Annahme einer hauptberuflichen selbstständige Erwerbstätigkeit dar. Für die Annahme, dass zur Widerlegung der gesetzlichen Vermutung beide gesetzgeberische Kriterien für die Prüfung, ob eine hauptberufliche selbstständige Tätigkeit vorliegt, also die wirtschaftliche Bedeutung und der zeitliche Aufwand, kumulativ widerlegt werden müssen, gibt es keinen ersichtlichen Ansatz.
Tenor
Es wird festgestellt, dass die im Berufungsverfahren (L 1 KR 9/22) gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Dezember 2021 (S 56 KR 5709/18) anhängige Klage der Antragstellerin gegen den ihre Versicherungsfreiheit ab 1. Januar 2014 feststellenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Dezember 2018 aufschiebende Wirkung hat.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Gründe
Für die Entscheidung über den zulässigen Antrag vom 11. Januar 2022 auf einstweiligen Rechtsschutz durch deklaratorische Feststellung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog (vgl. hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 5 aE, 15 m.N.) ist nach Einlegung der Berufung der Antragstellerin am selben Tag gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 13. Dezember 2021 zugestellte Urteil des Sozialgerichts (SG) Hamburg vom 6. Dezember 2021 (S 56 KR 5709/18), mit dem ihre Klage gegen den ihre Versicherungsfreiheit ab 1. Januar 2014 feststellenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. September 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Dezember 2018 abgewiesen worden ist, der erkennende Senat als Gericht der Hauptsache zuständig (Keller, a.a.O. Rn. 11; s.a. für einen Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG so ausdrücklich § 86b Abs. 2 S. 3 SGG). Einer Entscheidung steht nicht entgegen, dass das SG mit Beschluss vom 18. Februar 2019 einen bereits während des Klageverfahrens gestellten entsprechenden Antrag abgelehnt hat. Denn das damalige einstweilige Rechtsschutzverfahren hat sich nach Einlegung der Beschwerde erledigt, weil die Antragsgegnerin der Antragstellerin die offenen und fälligen Beitragsforderungen in Höhe von zu der Zeit knapp 46.000 Euro gestundet hat, die sich daraus ergeben, dass die Antragsgegnerin wegen der festgestellten Versicherungsfreiheit aufgrund angenommener hauptberuflich selbstständiger Tätigkeit der Antragstellerin deren freiwillige Weiterversicherung mit höheren Beitragsforderungen als aufgrund der bis dahin angenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigung festgestellt hat. Im Übrigen besteht gemäß § 86b Abs. 1 S. 4 SGG eine jederzeitige Änderungs- bzw. Aufhebungsbefugnis des Gerichts der Hauptsache, und zwar auch ohne Änderung der Sach- oder Rechtslage (Keller, a.a.O., Rn 20 m.w.N.).
Der Antrag hat auch Erfolg. Die Klage der Antragstellerin hat gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 Var. 2 SGG aufschiebende Wirkung mit der Folge, dass diese Wirkung angesichts der Nichtbeachtung durch die Antragsgegnerin festzustellen ist.
Die grundsätzlich vom Gesetzgeber vorgesehene aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Anfechtungsklagen im Bereich des Sozialrechts entfällt entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht in Fällen wie dem hier vorliegenden. Es liegen zunächst unstreitig weder die Voraussetzungen des § 86a Abs. 2 Nrn. 2 bis 4 SGG vor, noch ist eine Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 getroffen worden.
Die Ansicht der Antragsgegnerin, dass die aufschiebende Wirkung bei der eine vorbestehende Versicherungspflicht beendende Feststellung von Versicherungsfreiheit nach § 5 Abs. 5 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG entfalle, weil es sich hierbei um eine Entscheidung über Versicherungspflichten handle, trifft nach Überzeugung des Gerichts (entgegen der ersten Tendenz mit der vorläufigen Einschätzung gemäß Hinweisverfügung vom 13. Januar 2022) nicht...