Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Versicherungsfreiheit. keine Annahme einer hauptberuflich selbständigen Erwerbstätigkeit bei einer "Strohfrau". lediglich formale Arbeitgeberstellung. Widerlegung der Vermutungsregelung des § 5 Abs 5 S 2 SGB 5
Leitsatz (redaktionell)
1. Pflegekassen sind bei der Entscheidung über die Versicherungspflicht nach § 28h Abs. 2 S. 1 SGB IV nicht zuständig.
2. Die bloß formale Stellung einer Person in einem Unternehmen ohne eigene gewinnerzielende Tätigkeiten (sogenannte „Strohfrau”) sowie eine mehr als einen günstigen Versicherungsschutz sichernde Nebentätigkeit stehen der Annahme einer hauptberuflich selbstständigen Tätigkeit entgegen und sind ausreichend, um die aufgrund der formalen Arbeitgeberstellung bestehende gesetzliche Vermutung des § 5 Abs. 5 SGB V zu widerlegen. Es ist nicht relevant, ob die Person ihre formale Stellung genutzt hat, um einem Dritten die Führung eines Unternehmens zu ermöglichen.
Normenkette
SGB IV § 28h Abs. 2 S. 1; SGB V § 5 Abs. 5
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom
6. Dezember 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 19. September 2018 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Oktober 2022 aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in
beiden Rechtszügen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung von Versicherungsfreiheit in ihrer Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1 in der gesetzlichen Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung ab 1. Januar 2014.
Die 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten kranken- und bei der Beigeladenen zu 2 pflegeversichert. Sie absolvierte von 1993 bis 1995 eine Berufsausbildung zur Friseurin und war anschließend zunächst bis Ende 2006 als solche tätig. Nach einer Fehlgeburt folgte eine mehrmonatige Auszeit. Seit dem 1. April 2007 ist sie bei der Beigeladenen zu 1 in ihrem erlernten Beruf beschäftigt. Bis zum Beginn des Mutterschutzes (29. Juni 2018) vor der Geburt ihres ersten Kindes am xxxxx 2018 mit sich anschließender Elternzeit war die Klägerin mit Wochenarbeitszeiten von 38 bzw. - ab 2014 - 34 Stunden tätig, seit dem 3. August 2019 als geringfügig Beschäftigte. Ausweislich der derzeit für die Jahre bis einschließlich 2019 ergangenen Einkommenssteuerbescheide der gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zeugen O.Z., veranlagten Klägerin betrug deren Bruttoarbeitslohn für ihre Tätigkeit bei der Beigeladenen zu 1 im Jahr 2014 16.484 Euro, im Jahr 2015 21.416 Euro, im Jahr 2016 23.076 Euro, im Jahr 2017 23.137 Euro, im Jahr 2018 11.270 Euro und im Jahr 2019 0 Euro.
Darüber hinaus war die Klägerin seit 1999 als Einzelunternehmerin Inhaberin des Gewerbebetriebs M.. Bis zum 30. Juni 2019 waren in dem Betrieb fünf Mitarbeiter in Vollzeit - einer davon ihr Ehemann - und ein Mitarbeiter geringfügig beschäftigt. Mitte 2019 wurde eine GmbH gegründet (M. GmbH), deren einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Ehemann der Klägerin ist. Seit dem 1. August 2019 sind alle ehemaligen Arbeitnehmer des Einzelunternehmens in der GmbH beschäftigt (ein Teil bereits seit dem 1. Juli 2019). Mit Wirkung zum 15. Juli 2022 erfolgte die gewerberechtliche Abmeldung des Einzelunternehmens. In den bislang vorliegenden Einkommensteuerbescheiden sind für die Klägerin Einkünfte aus Gewerbebetrieb als Einzelunternehmerin wie folgt ausgewiesen: im Jahr 2014 71.660 Euro, im Jahr 2015 53.303 Euro, im Jahr 2016 96.229 Euro, im Jahr 2017 131.509 Euro, im Jahr 2018 166.892 Euro und im Jahr 2019 25.074 Euro. Das Bruttoarbeitseinkommen des Ehemanns der Klägerin aus abhängiger Beschäftigung wird wie folgt ausgewiesen: im Jahr 2014 36.328 Euro, im Jahr 2015 11.579 Euro, im Jahr 2016 16.982 Euro, im Jahr 2017 17.912 Euro, im Jahr 2018 23.793 Euro und im Jahr 2019 - dann auch als Geschäftsführer der GmbH - 59.447 Euro.
Auf Anforderung der Beklagten gab die Klägerin im „Fragebogen zur Feststellung, ob eine selbstständige Erwerbstätigkeit nebenberuflich ausgeübt wird“ unter dem 23. Mai 2018 an, dass sie im Besitz einer Gewerbeanmeldung sei und einen Kurierbetrieb ausübe. Sie beschäftige Arbeitnehmer, sei aber selbst „gar nicht“ in dem Unternehmen tätig. Ihre durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit gab sie mit „0 Stunden“ an.
Nachdem die Klägerin ihre Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016 vorgelegt hatte, stellte die Beklagte - „auch im Namen der Pflegekasse“ (der Beigeladenen zu 2) - mit Bescheid vom 19. September 2018 gegenüber der Klägerin und gegenüber der Beigeladenen mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 (Zeiten davor seien verjährt) das Bestehen von Versicherungsfreiheit in der gesetzlichen Kranken- und sozialen Pflegeversicherung bezogen auf die Tätigkeit der Klägerin für die Beigeladene zu 1 fest. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die von der Klägerin für deren selbstständige Tätigkeit erzielten Einnahmen seit 2014 weit über dem Arbeitsentgelt aus der Beschäftigung g...