Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergütungsanspruch. Krankenkasse. Präklusion. schriftliches Verfahren. Aufrechnung
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Vergütungsanspruch für die Krankenhausbehandlung und damit korrespondierend die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus erfolgt und im Sinne von § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich ist.
2. Wegen der erheblichen Folgen der in der PrüfvV 2016 geregelten Präklusion für den Fall, dass im schriftlichen Verfahren konkret angeforderte Unterlagen nicht fristgemäß vorgelegt werden, sind an deren Annahme strenge Anforderungen zu stellen.
3. Erfolgt die Anforderung von Unterlagen (§ 7 Abs. 2 S. 2 PrüfvV) aus Sicht des Betroffenen nicht im schriftlichen Verfahren, bleibt die Nichteinhaltung der gesetzten Frist für diesen ohne Konsequenzen, sodass keine Präklusion eintritt.
4. Kann ein Erstattungsanspruch der Krankenkasse mangels Präklusion des Krankenhauses und mangels inhaltlicher Prüfung durch den MDK nicht festgestellt werden, sind die Kosten der Krankenhausbehandlung von der Krankenkasse zu übernehmen. Damit ist die nach § 10 S. 1 PrüfvV 2016 grundsätzlich zulässige Aufrechnung nicht möglich.
Normenkette
SGB V § 39 Abs. 1 S. 2, § 275 Abs. 1c S. 2 Fassung: 2017-01-01; PrüfvV 2016 § 7 Abs. 2 S. 2, § 10 S. 1, §§ 8, 6
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 30. Mai 2022 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2280,05 Euro nebst 5 % Zinsen seit dem 16. Mai 2017 zu zahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit sind ein Anspruch auf Vergütung vollstationärer Krankenhausbehandlung, hier die Verweildauer sowie das Zusatzentgelt (ZE) 130.01 (Hochaufwendige Pflege von Erwachsenen, 43-129 Aufwandspunkte, gem. Fallpauschalen-Katalog 2016), und vorab die Frage, ob die Klägerin hinsichtlich der Vorlage der zur Prüfung erforderlichen Krankenakte nach § 7 PrüfvV 2016 präkludiert ist.
Die Klägerin ist Trägerin eines zugelassenen Krankenhauses (§ 108 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch ≪SGB V≫), in dem die am xxxxx 1942 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte G.W. (im Folgenden: Versicherte) im Zeitraum vom 11. bis zum 26. Januar 2017 stationär behandelt wurde. Die Aufnahme der multimorbiden, immobilen und rollstuhlabhängigen Versicherten mit dem Pflegegrad 3 bei bereits gestelltem Höherstufungsantrag erfolgte wegen einer spastischen Paraparese und Paraplegie, die Hauptdiagnose lautete Motoneuron-Krankheit.
Für die Behandlung machte die Klägerin gegenüber der Beklagten unter Übersendung der Daten nach § 301 SGB V am 14. Februar 2017 mit Rechnung vom selben Tag eine Vergütung von 4851,09 Euro geltend (Fallpauschale ≪Diagnosis Related Group, DRG≫ B85D ≪Degenerative Krankheiten des Nervensystems …≫ nebst ZE 130.01 sowie Langlieger- und weiteren Zuschlägen).
Die Beklagte beauftragte den damaligen Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK; jetzt: Medizinischer Dienst, MD) zunächst mit der Überprüfung der Dauer der stationären Behandlung (Überschreitung der oberen Grenzverweildauer) gemäß § 275 Abs. 1 SGB V. Dies zeigte der MDK mit Prüfanzeige vom 16. Februar 2017 gegenüber der Klägerin an. Auf dem Formular war angekreuzt, dass eine Begehung vorgesehen und keine Übersendung von Unterlagen erforderlich sei.
Am Folgetag, dem 17. Februar 2017, übermittelte der MDK der Klägerin nach Erweiterung des Prüfauftrags durch die Beklagte eine weitere Prüfanzeige, aus der hervorging, dass zusätzlich auch das ZE 130 (Mindestanzahl an Aufwandspunkten für hochaufwendige Pflege) überprüft werden solle. Wieder war angekreuzt, dass eine Begehung vorgesehen und keine Übersendung von Unterlagen erforderlich sei.
Mit Schreiben vom 24. Februar 2017 bat der MDK die Klägerin unter dem Betreff „Anforderung von Patientenunterlagen“, für den streitgegenständlichen Behandlungsfall die „komplette Patientenakte (in Kopie)“ zu übersenden. Weiter hieß es: „Sonstiges: „Ausnahme“! Wegen PKMS-Bearbeitung. Vielen Dank!“ (PKMS steht für „Pflegekomplexmaßnahmen-Score“). Das Schreiben schloss mit dem Satz: „Wir bitten, die erbetenen Unterlagen innerhalb von 4 Wochen mit dem beiliegend vorbereiteten Rückantwortschreiben zurückzusenden“.
Die Klägerin übersandte die angeforderte Patientenakte zunächst nicht. Nach ihrem Vortrag erfolgte der Versand an den MDK am 17. Mai 2017, nachdem jener die Beklagte darauf hingewiesen hatte, dass die Klägerin die Unterlagen nicht innerhalb der vereinbarten Frist zur Verfügung gestellt habe und eine Begutachtung aus diesem Grunde nicht möglich sei. Dies wiederum hatte die Beklagte der Klägerin mittels „K.“-Nachricht am 12. Mai 2017 unter dem „PrüfvV Text“ „Unvollständige UL/Aufrechnung“ mitgeteilt und am 15. Mai 2017 den am 6. März 2017 zunächst vollständig gezahlten Rechnu...