Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachweis der Rechtswidrigkeit eines vorsätzlichen tätlichen Angriffs zur Gewährung von Opferentschädigung

 

Orientierungssatz

1. Die Gewährung von Opferentschädigung setzt nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG voraus, dass der Antragsteller Opfer eines tätlichen vorsätzlichen Angriffs geworden ist und Versagensgründe i. S. des § 2 Abs. 1 S. 1 OEG nicht vorliegen.

2. Rechtswidrig ist nur der Angriff, für den Rechtfertigungsgründe nicht zur Seite stehen. Ihr Fehlen muss mit dem Maßstab des Vollbeweises erwiesen sein.

3. Kann nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden, dass zunächst von dem Anspruchsteller ein Angriff i. S. des § 32 StGB ausgegangen ist oder dass die zugefügte Verletzung von einem Notwehrrecht des § 32 StGB gedeckt ist, so fehlt es am erforderlichen Nachweis der Rechtswidrigkeit des tätlichen Angriffs.

4. Die Beweiserleichterung des § 15 KOV-VfG kommt erst dann zum Zug, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind und der Betroffene diesen Beweisnotstand nicht verschuldet hat.

5. In Streitsachen zum OEG ist grundsätzlich eine von den Straf- und Zivilgerichten unabhängige Beweiswürdigung geboten.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 16.02.2017; Aktenzeichen B 9 V 73/16 B)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung eines Ereignisses als vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff und das Nichtvorliegen von Versagungsgründen nach den Vorschriften des Gesetzes über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz (OEG)).

Für den 1970 geborenen Kläger beantragte am 2. August 2010 dessen Bruder als gerichtlich bestellter Betreuer Versorgung nach dem OEG. Zur Begründung gab er an, der Kläger sei am 29. Mai 2010 gegen 23.51 Uhr auf dem Bahnsteig der U-Bahnstation N. Opfer einer Gewalttat geworden. Er habe dort zusammen mit seiner Freundin auf dem Rückweg von einem Stadtteilfest auf die U-Bahn gewartet, als die späteren Täter an ihnen vorbeigegangen seien und Passanten - auch seine, des Klägers, Freundin - belästigt hätten. Da sei er aufgestanden und auf die Täter zugegangen. Einer der beiden habe ihm sofort und ohne Vorwarnung in den Bauch getreten. Dann habe es ein Handgemenge gegeben, wobei beide Täter auf ihn eingeschlagen hätten. Er habe versucht sich zu wehren, habe einen Faustschlag gegen das Kinn bekommen und sei "K.O." zu Boden gegangen. Dabei sei er mit dem Kopf aufgeschlagen und habe Schädelbrüche erlitten. Wegen der hierbei erlittenen Verletzungen sei er vom 30. Mai bis zum 23. Juni 2010 und vom 6. September bis 15. September 2010 im U. stationär und im neurologischen Zentrum der S. Kliniken vom 23. Juni bis 6. September ebenfalls stationär behandelt worden. Seit dem 15. September 2010 bis auf Weiteres sei er erneut dort in stationärer Behandlung. Die Täter seien der H. und der W ... In dem beigefügten Bericht des U. vom 23. Juni 2010 heißt es zur Anamnese:

Herr R. wurde am 30.05.2010 mit dem RTW in unserer Notaufnahme aufgenommen, gegen Mitternacht war es im Rahmen einer Fremdeinwirkung durch Dritte zu Schlägen gegen den Kopf mit Sturz und anschließender Bewusstlosigkeit gekommen. Bei Eintreffen des Notarztes bestand ein GCS von 3, mit zeitweiser ungezielter Abwehr, außerdem Blutungen aus Mund und Nase. Die Pupillen waren zu jedem Zeitpunkt isokor und lichtreagibel. Vor Ort erfolgte die Schutzintubation. Im Notfall Labor unseres Hauses bestand en Alkoholspiegel von 174,4 mg/dl Ethanol im Blut entsprechend 1,5 ‰. Im CCT stellte sich eine traumatische SAB, Kontusionsblutungen frontal und links tempora, links und rechts frontale, schmale Subduralhämatome sowie multiple Schädelfrakturen mit Einblutungen in die NNH und Mastoidzellen dar. Die übrige Traumaspirale ergab keine weiteren Traumata.

Der Kläger hat aus dem Vorfall eine bleibende Hirnschädigung davongetragen und führte zunächst aufgrund Bescheides des Versorgungsamtes vom 17. Januar 2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen G und B. Mittlerweile beträgt der GdB 50.

Die Staatsanwaltschaft H1 klagte den H. und den W. u.a. wegen gemeinschaftlich begangener schwerer Körperverletzung und lebensgefährdender Behandlung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung, §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5, 226 Abs. 1 Nr. 3, 25 Abs. 2, 52, 53 Strafgesetzbuch (StGB), an. Sie hielt die Einlassung der beiden Beschuldigten, die sich auf Notwehr berufen hatten, durch die Aussagen der im Ermittlungsverfahren vernommenen Zeugen für widerlegt.

Durch Urteil vom 6. Dezember 2010 (628 KLs 12/10 / 3490 Js 79/10) hat das Landgericht Hamburg die Angeklagten W. und H. wegen unterlassener Hilfeleistung jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt. Zur Vorgeschichte der Tat hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Sowohl die späteren Angeklagten als auch der Kläger und seine Freundin ...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge