Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Leistungen im Eingangsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen. Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung. Feststellung der Werkstattfähigkeit. Auslegung des Antrags auf Leistungen zur Teilhabe. Zuständigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auch die Leistungen im Eingangsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen stehen unter dem Vorbehalt, dass erwartet werden kann, dass der behinderte Mensch nach Teilnahme an diesen Leistungen (und etwaigen Leistungen im Berufsbildungsbereich, § 40 Abs 1 Nr 2 SGB 9) in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Dass dies in jedem Fall nur durch Teilnahme am Eingangsverfahren festgestellt werden kann, ist weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung zu entnehmen.

2. Anträge auf Leistungen zur Teilhabe sind im Zweifel dahingehend auszulegen, dass alle für den behinderten Menschen in Betracht kommenden Rehabilitationsleistungen beantragt werden. Kommt nach der Beurteilung des angegangenen Leistungsträgers eine Rehabilitationsmaßnahme in Betracht, für die er seiner Auffassung nach nicht zuständig ist, muss er den Antrag an den zuständigen Träger weiterleiten oder selbst in der Sache über die Maßnahme entscheiden. Er hat dann auch alle erforderlichen Leistungen außerhalb seiner "eigentlichen" Zuständigkeit zu erbringen (Anschluss an BSG vom 21.8.2008 - B 13 R 33/07 R = BSGE 101, 207 = SozR 4-3250 § 14 Nr 7). Nur so kann dem Sinn von § 14 SGB 9 entsprechend unabhängig vom Streit über Zuständigkeiten eine möglichst rasche Einleitung von Teilhabemaßnahmen sichergestellt werden.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Beigeladenen wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 11.1.2011 geändert:

Anstelle des Beigeladenen wird die Antragsgegnerin zur vorläufigen Übernahme der Kosten verpflichtet.

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Streitig ist im Verfahren um einstweiligen Rechtsschutz, ob die Antragsgegnerin oder der Beigeladene vorläufig die Kosten der Unterbringung der Antragsteller in einer Tagesförderstätte zu tragen hat oder ob die Antragsgegnerin zunächst Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Durchführung des Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu gewähren hat.

Die 1992 als Zwillinge geborenen Antragsteller sind körperlich und geistig stark behindert (Blindheit bzw. hochgradige Sehbeeinträchtigung, zentrale Hörbehinderung, Wahrnehmungsbeeinträchtigung in allen Bereichen, Tetraspastik, Epilepsie, geistige Behinderung). Sie waren seit 1999 im therapeutisch-pädagogischen Wohnheim "J. " in K. in Kostenträgerschaft des beigeladenen Landkreises untergebracht. Für beide Antragsteller besteht nach dem dort erstellten jeweiligen "Individuellen Hilfeplan-Entwicklungsbericht" ein erheblicher Hilfebedarf in vielen Situationen, die - auch zum Ausschluss von Selbst- und Fremdgefährdung - vielfach eine 1:1-Betreuung und ständige Beobachtung erfordern. Nach den Ergebnisprotokollen der Sitzung vom 25.8.2010 des Fachausschusses der Werkstatt für behinderte Menschen sind die Antragsteller einvernehmlich ab 1.8.2010 dem Förderbereich (nicht dem Eingangsverfahren, dem Berufsbildungs- oder Arbeitsbereich) zugeordnet worden.

Anträge der Antragsteller vom 5.2.2010 auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lehnte die Antragsgegnerin nach Einholung eines medizinischen Gutachtens nach Aktenlage durch ihre Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L. mit Bescheiden vom 4.3. und 8.3.2010 ab, da diese Leistungen nach den medizinischen Feststellungen wegen der gesundheitlichen Einschränkungen der Antragsteller nicht in Betracht kämen. Vielmehr werde die Integration in einer Tagesförderstätte zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft empfohlen.

Am 14.7.2010 beantragte die Betreuerin der Antragsteller bei dem Beigeladenen für beide Antragsteller die Kostenübernahme für den Besuch der Tagesförderstätte ab 3.8.2010. Diese Anträge leitete der Beigeladene am 28.7.2010 an die Antragsgegnerin weiter, da nach seiner Auffassung vor der Aufnahme in die Tagesförderstätte ein Besuch des Eingangsverfahrens in einer Werkstatt für behinderte Menschen notwendig sei. Die Antragsgegnerin sei daher zunächst vorrangig für die Kostenübernahme zuständig. Sie habe die Antragsteller über die Weiterleitung unterrichtet.

Mit Schreiben jeweils vom 9.8.2010 teilte die Antragsgegnerin dem Beigeladenen mit, sie sei für die beantragte Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft kein Rehabilitationsträger. Sie verwies auf eine "Gemeinsame Empfehlung" der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und bat um Mitteilung, ob der Beigeladene in eigener Zuständigkeit über den Antrag entscheiden möchte, andernfal...

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