Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung. Justizvollzugsanstalt. Beibehalten der Wohnung. Unterkunftskosten
Leitsatz (amtlich)
1. Nicht erwerbsfähig iS des SGB 2 ist nur, wer "wegen Krankheit oder Behinderung" auf absehbare Zeit zu einer Erwerbstätigkeit außer Stande ist (Umkehrschluss aus § 8 Abs 1 SGB 2).
2. Bei einer JVA handelt es sich um keine stationäre Einrichtung iS von § 7 Abs 4 SGB 2.
3. Die in der JVA gewährte Unterkunft schließt die Hilfsbedürftigkeit nach dem SGB 2 hinsichtlich der Unterkunftskosten nicht grundsätzlich aus. Angemessen sind die Aufwendungen jedoch nur, wenn unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse und der tatsächlichen und rechtlichen Situation (Besonderheit des Einzelfalls) keine andere kostengünstigere Lösung möglich ist.
4. Bei Entscheidungen, für welchen Zeitraum das Beibehalten einer Wohnung während einer freiheitsentziehenden Maßnahme noch angemessen iS des § 22 SGB 2 ist, kann auf die Rechtsgedanken in § 22 Abs 1 S 2 bzw § 7 Abs 4 SGB 2 zurückgegriffen werden.
Tatbestand
Der Antragsteller begehrt die Weiterzahlung der ihm bewilligten Kosten für Unterkunft und Heizung auch während der Zeit, in der er sich in Strafhaft befindet. Streitig ist, ob er als für länger als sechs Monate untergebracht im Sinne des § 7 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) gilt.
Der Antragsteller bezog bereits von Januar bis April 2005 Leistungen nach dem SGB II von der Antragsgegnerin. Auf seinen Antrag vom 11. April 2005 bewilligte ihm diese mit Bescheid vom 14. April 2005 weiter Leistungen für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Oktober 2005 in Höhe von insgesamt 667,58 EUR, von denen 322,58 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung direkt an die Vermieter, die D. E. überwiesen worden. Weitere 16,- EUR wurden direkt an die F. Aktiengesellschaft (Abschlag für Stromrechnung) überwiesen.
Mit Schreiben vom 3. Mai 2005 wandte sich die Justizvollzugsanstalt (JVA) G. an die Antragsgegnerin und teilte mit, dass sich der Antragsteller seit dem 26. April 2005 für die Dauer von 8 Monaten in Strafhaft befinde. Mit Schreiben vom gleichen Tag beantragte der Antragsteller die Übernahme der Unterkunftskosten.
Mit Bescheid vom 1. Juli 2005 hob die Antragsgegnerin ihre Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II ab dem 1. Juli 2005 nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) ganz auf, weil der Antragsteller ab dem 27. April 2005 für länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei. Dieser Bescheid wurde an die Anschrift des Antragstellers gesandt. Mit Bescheid vom gleichen Tage, gerichtet an die JVA G., wurde der Antrag auf Übernahme der Unterkunftskosten für die Dauer der Inhaftierung abgelehnt. Ebenfalls mit Schreiben vom 1. Juni 2005 wandte sich die Antragsgegnerin an die F. und die D. und bat um Erstattung der Zahlungen für Mai und Juni 2005, weil diese "ohne rechtlichen Grund gezahlt" worden seien.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2005 lehnte die Antragsgegnerin erneut die Übernahme der Unterkunftskosten während der Dauer der Inhaftierung ab, nachdem der Antragsteller eine Haftbescheinigung mit dem voraussichtlichen Austritt 4. Oktober 2005 sowie ein Vollstreckungsblatt übersandt hatte, aus dem sich der Ablauf von 2/3 der Strafhaft am genannten Tag ergab. Das tatsächliche Strafmaß, so der Antragsgegner, sei länger als sechs Monate. Am 8. Juli 2005 legte der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch gegen die Bescheide vom 1. Juni 2005 ein. Beide Bescheide seien an die Wohnanschrift des Antragstellers, nicht jedoch an die JVA gesandt worden. Deshalb habe der Antragsteller erst Kenntnis davon erhalten, nachdem sein Stiefvater den Briefkasten kontrolliert habe.
Mit am 12. Juli 2005 beim Sozialgericht (SG) Oldenburg eingegangenem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrte der Antragsteller die Verpflichtung der Antragsgegnerin, rückwirkend ab Mai 2005 seine Unterkunftskosten zu tragen. Mit Beschluss vom 15. Juli 2005 verpflichtete das SG die Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung bis zum 4. Oktober 2005. Hinsichtlich der Vorschrift des § 7 Abs. 4 SGB II sei eine Prognoseentscheidung zu treffen; im vorliegenden Fall sei zu erwarten, dass der Antragsteller nach Verbüßung von zwei Drittel der Haftstrafe entlassen werde. Der Antragsteller habe daher Anspruch auf Übernahme seiner Unterkunftskosten über den 30. Juni 2005 hinaus bis zum 4. Oktober.
Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer am 27. Juli 2005 eingelegten Beschwerde. Der Antragsteller habe tatsächlich eine Strafhaft von acht Monaten zu verbüßen, die vorgelegte Bescheinigung über einen prognostizierten früheren Entlassungstermin könne zu keiner anderen Sachverhaltsbeurteilung führen. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgele...