Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Künstlersozialabgabe. Schätzung
Leitsatz (amtlich)
Auch eine behördliche Schätzung der Höhe nachzuerhebender Künstlersozialabgaben muss sich auf sorgfältig ermittelte Tatsachen gründen und inhaltlich nachvollziehbar auf die Erfassung des im jeweiligen Einzelfall geschuldeten Abgabenbetrages ausgerichtet sein.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 29. August 2022 aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin S 34 BA 21/22 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens aus beiden Rechtszügen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.098,38 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die in der Rechtsform einer GmbH geführte Antragstellerin betreibt eine kleine Schokoladenmanufaktur (Umsatzerlöse im Jahr 2017 ausweislich des vorgelegten Jahresabschlusses knapp 120.000 €). Im vorliegenden Verfahren begehrt sie vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich einer Nachforderung von Künstlersozialabgaben.
Auf der Grundlage einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 14. Dezember 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2022 der Antragstellerin die Nachentrichtung von Beiträgen zur Künstlersozialversicherung für die Jahre 2016 bis 2020 in einer Gesamthöhe von 4.196,76 € aufgegeben. Dabei ließ sich die Antragsgegnerin von der Einschätzung leiten, dass die Antragstellerin nicht nur das von ihr für das Jahr 2016 gemeldete beitragspflichtige Entgelt in Höhe von 1.870 € für abgabenpflichtige Leistungen, sondern in jedem der fünf streitbetroffenen Beitragsnacherhebungsjahre ein auf 19.000 € geschätztes beitragspflichtiges Entgelt aufgewandt habe.
Mit der am 10. Mai 2022 erhobenen Klage (S 34 BA 21/22) macht die Antragstellerin demgegenüber geltend, dass sie entsprechend ihrer Meldung gegenüber der Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 (Bl. 6 GA S 34 BA 21/22) lediglich folgende Beträge an Künstler, Designer, Musiker, Publizisten oder Werbedesigner aufgewandt habe: 2016 1.870 €, 2017 203 €, 2018 225 €, 2019 90 € und 2020 50 € (vgl. auch die von der Antragstellerin vorgelegten Rechnungen Bl. 39 ff. S 34 BA 21/22).
Mit Antrag vom 10. Mai 2022 hat die Antragstellerin ferner um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Diesen Antrag hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 29. August 2022, der Antragstellerin zugestellt am 30. August 2022, abgelehnt. Der Vortrag der Antragstellerin stehe im Widerspruch zu ihrem Vortrag in dem weiteren Verfahren S 34 BA 31/22 ER (welches allerdings nicht die eigene geschäftliche Tätigkeit der Antragstellerin im Prüfzeitraum, sondern diejenige des von Antragstellerin übernommenen Unternehmens G. zum Gegenstand hat). Zudem sei eine unbillige Härte nicht belegt worden.
Mit ihrer Beschwerde vom 5. Oktober 2022 rügt die Antragstellerin, dass das Sozialgericht verkannt habe, dass im Verfahren S 34 BA 31/22 ER die Abgabenschulden des von ihr übernommenen Unternehmens G. zu prüfen seien, wohingegen im vorliegenden Verfahren der an ihre eigene unternehmerische Tätigkeit anknüpfende Beitragsnacherhebungsbescheid der Antragsgegnerin den Streitgegenstand bilde.
Die Schätzung der Antragsgegnerin sei realitätsfern. Ein Vollzug der streitbetroffenen Abgabenforderung bedrohe ihre wirtschaftliche Existenz, zumal sie von den Pandemieauswirkungen wirtschaftlich stark betroffen sei.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts vom 29. August 2022 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage S 34 BA 21/22 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Im vorliegenden Fall ist in Anwendung von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den auf der Grundlage einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV von der Antragsgegnerin erlassenen Abgabennachforderungsbescheid anzuordnen. Im Rahmen der gebotenen Abwägung der wechselseitigen Interessen sind im vorliegenden Fall die im Grundsatz vom Gesetzgeber mit der Regelung in § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG als vorzugswürdig eingestuften Interessen der Künstlersozialkasse an der alsbaldigen Durchsetzung ihrer (von der Antragsgegnerin festgesetzten) Abgabenforderungen als nachrangig gegenüber den Interessen der Antragstellerin an einer vorläufigen Verschonung von der Erfüllung der festgesetzten Nachforderung zu werten. Davon unberührt bleibt die Verpflichtung der Antragstellerin, den sich aus ihrer eigenen Meldung zur Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 ergebenden Abgabepflichten zu entsprechen, soweit die von der Meldung erfassten Aufträge an selbständige Künstler mehr als nur gelegentlich erteilt worden sind.
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