Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Leistungsberechtigter. Ausreisepflicht. Fehlen eines erforderlichen Aufenthaltstitels. keine Befreiung von der Visumpflicht nach Art 1 Abs 2 EGV 539/2001 bei Einreise zum Zwecke eines Daueraufenthalts. Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. unerlaubte Einreise. keine Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs 3 S 1 AufenthG 2004. kein rechtmäßiger Aufenthalt. Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung. deklaratorische Wirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine titelfreie (dh visumfreie) Einreise ist nur dann als erlaubt anzusehen, wenn der beabsichtigte Aufenthaltszweck auch nur auf einen Kurzaufenthalt iS von Art 1 Abs 2 EG-VisaVO (juris: EGV 539/2001) gerichtet ist. Beabsichtigt der Ausländer schon bei der Einreise einen Aufenthalt, der wegen der Überschreitung des zeitlichen Rahmens eines Visums bedurft hätte, besteht für die Anwendbarkeit der Befreiungsvorschrift des Art 1 Abs 2 EG-VisaVO kein Raum.
2. Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs 5 AufenthG (juris: AufenthG 2004) sind rein deklaratorischer Art, ohne dass durch sie ein Rechtsstatus begründet wird (Anschluss an BVerwG vom 21.1.2010 - 1 B 17/09 ua = Buchholz 402.242 § 84 AufenthG Nr 1).
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 5. Mai 2014 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für die Zeit ab dem 22. April 2014 bis zur Entscheidung über ihren Leistungsantrag vom 22. April 2014 vorläufig Leistungen gemäß § 3 AsylbLG nach der Übergangsregelung des Bundesverfassungsgericht vom 18. Juli 2012 (- 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -) zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung existenzsichernder Leistungen für visumfrei nach Deutschland eingereiste Drittstaatsangehörige.
Die 1988 geborene Antragstellerin zu 1 ist die Mutter der 2008 bis 2013 geborenen Antragsteller zu 2 bis 5 und die Tante des 1999 geborenen Antragstellers zu 6, der nach ihren Angaben nicht mehr von seiner Mutter versorgt wird und seit ca. 8 bis 9 Jahren in der Familie der Antragsteller zu 1 bis 5 lebt. Sie lebt nach eigenen Angaben von ihrem in Belgrad verbliebenen Ehemann getrennt und leidet nach den Berichten des Arztes für Innere Medizin Dr. I., Hannover, vom 10. April 2014 und des Psychiaters J., Belgrad, vom 5. April 2014 an einer rezidivierenden depressiven Störung. Die Antragsteller geben sich als in die Bundesrepublik Deutschland am 7. April 2014 visumfrei eingereiste serbische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Roma aus. Zum Zeitpunkt der Einreise verfügten sie über eine Reisekrankenversicherung und nach der eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin zu 1 vom 28. Juli 2014 über begrenzte finanzielle Mittel, die bis zum 20. April 2014 aufgebraucht waren. Sie leben bei der Tante der Antragstellerin zu 1 in K..
Am 10. April 2014 beantragten die Antragsteller bei der Antragsgegnerin - Fachbereich Ausländer-/Asylrecht - die Ausstellung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), hilfsweise nach § 25 Abs. 5 AufenthG, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass weder ein Asylantrag gestellt noch um Flüchtlingsschutz nachgesucht werde, sondern sich das Begehren ausschließlich auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG beziehe. Der Fachbereich Ausländer-/Asylrecht leitete diese Feststellungsanträge zuständigkeitshalber an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weiter und stellte den Antragstellern bis zum 4. August 2014 befristete Fiktionsbescheinigungen über ihren nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG als erlaubt geltenden Aufenthalt in Deutschland aus.
Am 22. April 2014 beantragten die Antragsteller bei der von der Antragsgegnerin herangezogenen Stadt K. die Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG. Während die Antragsteller von einer mündlichen Ablehnung ihres Antrags bei der Vorsprache ausgehen und vortragen, am 23. April 2014 hiergegen Widerspruch erhoben zu haben, ist nach dem Standpunkt der Antragsgegnerin eine Entscheidung über den Leistungsantrag wegen des noch ungeklärten ausländerrechtlichen Status der Antragsteller noch nicht erfolgt. Ein Verwaltungs- bzw. Widerspruchsvorgang wurde (zunächst) nicht angelegt.
Die Antragsteller haben am 23. April 2014 beim Sozialgericht (SG) Hannover um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und neben der Beiladung des Jobcenters Region Hannover die Verpflichtung eines der Leistungsträger beantragt, den Antragstellern vorläufig existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder nach dem AsylbLG zu gewähren. Das SG hat den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch Beschluss vom 5. Mai 2014 mit der Begründung abgelehnt, eine Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG der nicht geduldeten Antragsteller, die auch im Übrigen über keinen der in § 1 Abs. 1 Asyl...