Rechtskraft: Ja
Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Anordnung. einstweiliges Rechtsschutzverfahren. aufschiebende Wirkung. Anordnung der aufschiebenden Wirkung. sofortige Vollziehung. Anordnung der sofortigen Vollziehung. Begründung. Begründungspflicht. öffentliches Interesse. Interessenabwägung. Arzneimittel. Internet-Apotheke. Versandhandel. DocMorris. 0800DocMorris N.V.
Leitsatz (amtlich)
1. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG steht grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.
2. Die Ermessensausübung erfordert in Ansehung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG eine sorgfältige und umfassende Interessenabwägung. Diese Interessenabwägung setzt voraus, dass sämtliche erkennbaren Interessen der Betroffenen berücksichtigt werden, dass diese Interessen gegeneinander abgewogen werden und dass plausible Gründe vorhanden sind, die unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Anordnung des Sofortvollzuges rechtfertigen.
3. Die schriftliche Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG muss sämtliche Gesichtspunkte enthalten, die die Behörde in ihre Ermessensentscheidung einbezogen hat.
Normenkette
SGG § 86a Abs. 2 Nr. 5, § 86b Abs. 1 Nr. 2; AMG §§ 43, 73, 73 Abs. 2 Nr. 6a; EGVtr Art. 28, 19 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Hannover vom 16. Juli 2002 wird aufgehoben.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 17. Juni 2002 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 28. Mai 2002 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.
Der Streitwert wird auf 4.000,– EURO festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin (Ast) ist eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse (BKK) mit Sitz in Hannover. Sie wendet sich gegen einen Aufsichtsbescheid der Antragsgegnerin (Ag). Das vorliegende Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz betrifft die Anordnung der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides. Das Hauptverfahren ist am Sozialgericht (SG) Hannover anhängig (Az.: S 11 KR 486/02).
Mit Schreiben vom 31. August 2001 wandte sich die Ag an alle bundes-unmittelbaren Krankenkassen. Sie teilte mit, dass ihr ein Einzelfall einer Kostenerstattung für Medikamente bekannt geworden sei, die aus dem Internet über Versandhandel bezogen worden seien. Das gebe ihr – der Ag – Anlass, auf die Rechtslage hinzuweisen. Internet-Apotheken seien keine Leistungserbringer im Sinne des Fünftes Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V), weil sie vom Rahmenvertrag gem § 129 SGB V nicht erfasst würden. Eine rechtmäßige Kostenerstattung von Arzneimitteln, die aus Internet-Apotheken bezogen würden, sei zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen daher nicht möglich.
In einer Presseinformation vom 13. Dezember 2001 wies die Ast auf die dramatischen Kostensteigerungen im Arzneimittelbereich hin. Dies sei der Grund für sie und neun niedersächsische Betriebskrankenkassen, die Direktabrechnungen der Apotheke 0800DocMorris N.V. mit Sitz in den Niederlanden zu akzeptieren. Nach den Aussagen der Apotheke 0800DocMorris N.V. sei der Preis für Medikamente bei ihr durchschnittlich 15 % günstiger, in Einzelfällen bis zu 60 %. Außerdem entfalle die Rezeptgebühr, da es eine Zuzahlungspflicht bei niederländischen Apotheken nicht gäbe.
Die Ag nahm diese Pressemitteilung zum Anlass, die Ast gem § 89 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften – (SGB IV) aufsichtsrechtlich zu beraten: In Deutschland dürften zugelassene apothekenpflichtige Arzneimittel berufs- oder gewerbsmäßig für den Endverbrauch grundsätzlich nur in Apotheken und nicht im Wege des Versandhandels in den Verkehr gebracht werden. Internet-Apotheken lieferten Arzneien aber im Wege des Versandhandels gewerbsmäßig an Endverbraucher und brächten sie damit in Verkehr. Daher liege ein Handel außerhalb der Apotheke und mithin eine Verletzung deutschen Rechts vor. Die Ast möge daher bestätigen, dass sie künftig den gegen §§ 43 Abs. 1 und 73 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) verstoßenden Versandhandel von Medikamenten nicht mehr fördere und insbesondere keine Kosten für solche Medikamente erstatte.
Eine entsprechende Unterlassungserklärung gab die Ast nicht ab.
Daraufhin erließ die Ag gegenüber der Ast den Bescheid vom 28. Mai 2002, der folgenden Verfügungssatz hat:
„Die BKK Continental wird gemäß §§ 89 Abs. 1 S. 2, 90 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IV verpflichtet,
I. es zu unterlassen, ihre Versicherten auf die Möglichkeit des Bezuges von apothekenpflichtigen Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung hinzuweisen, die im Wege des Versandhandels durch fernmündliche, schriftliche oder Bestellung im Internet erworben werden,
II. für ihre Versicherten für apothekenpflichtige Arzneimittel, die über einen Versandhandel erworben wurden, weder ganz noch teilweise oder im Wege der Direktabrechnung zu tragen.
III. Die sofortige Vollziehung des Bescheides wird angeordne...