Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch als Kind. tätlicher Angriff. Beweis. Beweiserleichterung. Absehen von einer Vernehmung
Leitsatz (amtlich)
1. Der tätliche Angriff nach § 1 Abs 1 OEG durch einen sexuellen Missbrauch als Kind bedarf auch dann des Vollbeweises, wenn er lange zurück liegt und erst spät dem Opfer bewusst wurde.
2. Die Beweiserleichterung nach § 6 Abs 3 OEG iVm § 15 KOVVfG (eigene Angaben der Antragstellerin) kann erst dann zum Zuge kommen, wenn andere Beweismittel objektiv nicht vorhanden sind.
3. Die Unannehmlichkeiten einer Aussage für Zeugen und Opfer im OEG - Verfahren mit dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs eines Kindes durch Angehörige rechtfertigen es in der Regel nicht, von ihrer Vernehmung abzusehen.
4. Allein die hohe Wahrscheinlichkeit, dass nach medizinischer Erkenntnis zwischen einem sexuellen Missbrauch als Kind und den gegenwärtig vorhandenen psychischen Erkrankungen der erwachsenen Antragstellerin ein kausaler Zusammenhang bestehen dürfte, vermag die gebotene Feststellung nicht zu ersetzen, ob ein Missbrauch im Sinne eines Angriffs vorlag.
5. Die in Strafverfahren üblichen psychologischen Glaubhaftigkeitsgutachten können auch zur Ausfüllung des in § 15 Satz 1 KOVVfG genannten Tatbestandsmerkmals der Glaubhaftigkeit der Angaben der Antragstellerin herangezogen werden.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 4. Januar 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz
- OEG - aufgrund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und Jugend, der ungefähr in den Jahren 1957 bis 1971 stattgefunden haben soll.
Die Klägerin wurde im Februar 1953 in Wilhelmshaven geboren. Ihr Vater war von Beruf Schlosser und in einer Werft tätig, später war er nach einer längeren Erkrankung als Dekorateur berufstätig. Nach den Angaben der Klägerin lebt der Vater in I. und sei altersdement. Die Mutter war Hausfrau und Sachbearbeiterin. Die Klägerin wurde als drittes Kind von insgesamt vier Kindern geboren. Der etwa drei Jahre ältere Bruder soll an einer Psychose leiden; die ältere Schwester soll verheiratet in I. leben. Der sechs Jahre jüngere Bruder soll einen Campingplatz in J. betreiben. Nach dem Besuch der Hauptschule, während dessen sie im Alter von 6 bis 12 Jahren intensiv Sportakrobatik betrieben haben soll, besuchte die Klägerin anschließend in der Zeit vom April 1968 bis März 1970 die städtische Handelslehranstalt in I. und schloss diese mit der Mittleren Reife ab. In der Zeit vom 1. April 1970 bis zum 30. März 1973 absolvierte die Klägerin bei einem Steuerberater eine Ausbildung zur Steuerfachgehilfin, die sie jedoch nicht erfolgreich abschloss; nach eigenen Angaben soll sie zwei Mal die Abschlussprüfung nicht bestanden haben. Anschließend war sie in der Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1973 als kaufmännische Angestellte in dem Steuerbüro berufstätig. Nachdem sie in den ersten Tagen des Juli 1973 vorübergehend als Verkäuferin in einem Modegeschäft in Varel berufstätig gewesen war, übte sie in der Zeit vom 16. Juli 1973 bis zum 31. Dezember 1975 eine Tätigkeit als Sachbearbeiterin in einem Werk zur Flugzeugherstellung in K. aus. Für das Jahr 1976 wird eine vorübergehende Tätigkeit der Klägerin als Sekretärin bei einer Viehverwertungsgenossenschaft in K. angesprochen (Bl. 37 Beiakte C). In der Zeit vom 5. April 1976 bis zum 2. Dezember 1979 war die Klägerin als Sekretärin in einer Dienststelle der Wehrverwaltung in I. berufstätig. Diese Tätigkeit gab sie wegen ihrer verschiedenen Erkrankungen auf.
In der Zeit vom 1. Februar bis zum 30. April 1981 begann die Klägerin eine von der Arbeitsverwaltung geförderte Umschulung zur Krankenschwester im Kreiskrankenhaus des Landkreises L. in M., die sie dann aber abbrach. Die Klägerin heiratete im März 1982 ihren fünf Jahre älteren Mann; aus der Ehe gingen zwei im Februar 1982 und im Mai 1985 geborene Töchter hervor. Seit dem 1. April 1998 erhielt die Klägerin eine Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit von der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte; seit dem 1. Oktober 2003 wird eine Rente wegen Berufsunfähigkeit auf unbestimmte Dauer gezahlt (Bescheid vom 17. Juli 2003).
In der Zeit von 1977 bis 1982 war die Klägerin wegen depressiver Verstimmungen bei dem Facharzt für innere Medizin Dr. N. in Behandlung. Diese Behandlungen setzte sie in der Zeit von 1983 bis 1990 bei dem Facharzt für Allgemeinmedizin J. O., I. fort, der ein Angstsyndrom gepaart mit reaktiven Depressionen und Vertigo diagnostizierte. In der Zeit vom 28. Januar 1980 bis zum 1. November 1980 war die Klägerin stationär im Zentralkrankenhaus P., Q. stationär untergebracht. Dort wurde als Diagnose gestellt: “Konversionssymptome und phobische Symptome bei Frigiditätsproblematik auf der Basis einer schizoid-hysterischen Neurose„ (Arztbrief an Dr. R...