Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. erhebliche Gehbehinderung. psychisches Leiden. Panikstörung und Agoraphobie. keine spezifische Auswirkung auf das Gehvermögen. Merkzeichen B. Begleitperson
Orientierungssatz
1. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) sind im Falle einer psychischen Störung (hier: Panikstörung mit Agoraphobie) nicht erfüllt, wenn sich diese nicht spezifisch auf das Gehvermögen auswirkt (vgl LSG Celle-Bremen vom 30.5.2016 - L 5 SB 108/14).
2. Liegen die Voraussetzungen des Merkzeichens G nicht vor (und sind nicht die Merkzeichen Gl oder H festgestellt), scheitert auch die Feststellung des Merkzeichens B (Berechtigung zur ständigen Begleitung) nach § 229 Abs 2 SGB 9 2018.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. Januar 2021 wird zurückgewiesen.
Kosten für das Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung der Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und B (Berechtigung für eine ständige Begleitung). Festgestellt ist nach Teilanerkenntnis im Klageverfahren ein Grad der Behinderung (GdB) von 70.
Der Beklagte hatte bei dem 1985 geborenen Kläger mit Bescheid vom 8. Januar 2015 einen GdB von 50 wegen eines psychischen Leidens mit funktionellen Störungen festgestellt.
Im Streit steht der Antrag vom 30. Dezember 2016, mit dem der Kläger eine Verschlimmerung seiner psychischen Störungen sowie erstmals Beeinträchtigungen aufgrund der Diagnosen „Borderline-Störung, Infantilismus, Trigeminusneuralgie, posttraumatische Belastungsstörung“ geltend machte. Zugleich beantragte er die Merkzeichen G, B und RF (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Nachdem der Beklagte ein in einem Rentenverfahren erstelltes psychiatrisch-psychotherapeutisches Gutachten vom 29. Mai 2017 beigezogen hatte, lehnte er den Antrag mit Bescheid vom 20. Dezember 2017 i.G.d. Widerspruchsbescheides vom 4. April 2018 ab.
Hiergegen hat der Kläger am 7. Mai 2018 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und zuletzt nach Teilanerkenntnis des Beklagten mit dem Ziel der Zuerkennung der Merkzeichen G und B geführt. Die psychischen Beeinträchtigungen führten zur Orientierungslosigkeit, weshalb die Voraussetzungen des Merkzeichens G vorlägen; gleichzeitig sei der Kläger antriebslos und desorientiert, weshalb das Merkzeichen B zuzuerkennen sei.
Das SG hat Befundberichte der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dr. F. (Bl. 48 ff. der Gerichtsakte - GA) und Dr. G. (Bl. 69 f.) des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H. (Bl. 71 f.) und des Facharztes für Anästhesiologie Dr. I. (Bl. 74 f.) eingeholt. Wegen der Einzelheiten der Befundberichte wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen. Das SG hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines fachpsychiatrischen Gutachtens der Fachärztin für Psychiatrie Dr. J.. Nach ihrer Einschätzung liegt eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen Anpassungsstörungen vor; die Bewegungsfähigkeit sei allerdings nicht erheblich beeinträchtigt. Wegen der Einzelheiten des Gutachtens vom 13. Januar 2020 wird auf Bl. 145 ff. GA und wegen einer ergänzenden Stellungnahme auf Bl. 179 f. GA Bezug genommen.
Der Beklagte hat ein Teilanerkenntnis mit Schriftsatz vom 6. März 2020 abgegeben und den GdB ab dem 30. Dezember 2016 mit 70 wegen eines „Psychischen Leidens mit funktionellen Störungen, komplexe posttraumatische Belastungsstörung, depressive Störung, Angst-Panikstörung“ festgestellt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und die Klage gerichtet auf die Zuerkennung der Merkzeichen G und B fortgeführt.
Mit Gerichtsbescheid vom 29. Januar 2021 hat das SG die Klage nach Anhörung der Beteiligten abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der beantragten Merkzeichen, weil keinerlei Beeinträchtigung seines physischen Gehvermögens vorliege.
Gegen den ihm am 1. Februar 2021 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 25. Februar 2021 Berufung eingelegt und darauf verwiesen, dass auch die erhebliche psychische Beeinträchtigung zur Zuerkennung der Merkzeichen führen müsse. Der Kläger beruft sich auf die UN-Behindertenrechtskonvention und die Gleichstellung von psychischen mit physischen Erkrankungen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hannover vom 29. Januar 2021 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 20. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2018 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 6. März 2020 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die Merkzeichen G und B festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den Gerichtsbescheid des SG für zutreffend.
Mit Beschluss vom 28. September 2022 hat der Senat nach Anhörung der B...