Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Wie-Berufskrankheit. Krebserkrankungen des Magens und der Speiseröhre. Gummiindustrie. keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft
Leitsatz (amtlich)
Eine Krebserkrankung des Magens und der Speiseröhre (Kardiakarzinom) bei einem in der Gummiindustrie beschäftigten Versicherten kann nicht als Wie-BK anerkannt werden.
Tenor
Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2012 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit (Wie-BK).
Die Kläger sind die Eltern (und Erben) des am 9. Juni 2009 verstorbenen F. (im Folgenden: der Versicherte), der von 1990 bis 2007 als Tauchmaschinen- bzw Kalanderführer in der Gummiindustrie tätig war. Im Februar 2007 wurde bei dem Versicherten ein Kardiakarzinom (Krebserkrankung im Bereich des Magens und der Speisröhre) diagnostiziert (Bericht der G. vom 12. März 2007), die er auf Expositionen zurückführte, denen er an seinem Arbeitsplatz ausgesetzt war.
Die Beklagte holte zunächst eine Tätigkeits- und Gefährdungsbeschreibung des Arbeitgebers, Messpläne über die Luftbelastung in der Raucher- und Pausenecke des Versicherten mit Nitrosaminen sowie eine Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) ein. Im Anschluss lehnte die Beklagte ua die Anerkennung der Krebserkrankung als Wie-BK nach § 9 Abs 2 S 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) ab. Zwar wiesen epidemiologische Studien aus dem Bereich der deutschen Gummiindustrie darauf hin, dass an Arbeitsplätzen mit einer hohen Nitrosaminkonzentration ein signifikanter Anstieg der Erkrankungen mit Speiseröhrenkrebs bestehe; derartige Expositionen entstünden aber erst nach der Vulkanisation und damit in einem Arbeitsbereich, in dem der Versicherte nicht eingesetzt war (Bescheid vom 6. Februar 2008). Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 2008).
Der Versicherte hat am 24. Juli 2008 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhoben. Nach seinem Tod (am 9. Juni 2009) haben die Kläger geltend gemacht, dass am Arbeitsplatz des Versicherten keine Schadstoffmessungen durchgeführt worden seien. Außerdem habe der Versicherte auch im Bereich der Vulkanisation gearbeitet. Zudem sei unverständlich, weshalb die Beklagte in ihre Entscheidung neben den Nitrosaminen nicht auch die Expositionen gegenüber Zinkstearat, Toluol, Ethylacetat, Talkum, Ruß, Maisstärke und Asbest einbezogen habe, denen der Versicherte ebenfalls ausgesetzt gewesen sei.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 20. Dezember 2012 abgewiesen. Die Kläger hätten keinen Anspruch auf die Anerkennung der Krebserkrankung des Versicherten als Wie-BK. Die individuellen Voraussetzungen einer solchen BK lägen nicht vor; insbesondere sei der Versicherte an seinem Arbeitsplatz keinen nennenswerten Belastungen mit Nitrosaminen ausgesetzt gewesen. Dies zeigten die vorgelegten Messergebnisse. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Versicherte geraucht und damit eine außerberufliche Konkurrenzursache gesetzt habe. Die übrigen Schadstoffbelastungen am Arbeitsplatz des Versicherten seien zumindest hinsichtlich des Magens und der Speiseröhre nicht krebserregend.
Gegen das Urteil (zugestellt am 10. Januar 2013) wenden sich die Kläger mit ihrer Berufung vom 25. Januar 2013 und machen im Wesentlichen eine unvollständige Amtsermittlung und Beweiswürdigung durch das SG geltend.
Die Kläger beantragen,
1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchbescheids vom 9. Juli 2008 aufzuheben,
2. festzustellen, dass das Kardiakarzinom des Versicherten eine Wie-Berufskrankheit nach § 9 Abs 2 S 1 SGB VII gewesen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Zur weiteren Sachaufklärung hat der erkennende Senat zunächst den beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelten Ärztlichen Sachverständigenbeirat für Bken um Mitteilung des Sachstands zur Einführung einer BK "Krebserkrankung in der Gummiindustrie (Nitrosamine)" gebeten. Anschließend hat das Ministerium mitgeteilt, dass der Beirat zunächst bis Mai 1998 die Thematik eingehend beraten und anschließend die weitere Beratung eingestellt habe, da alle verfügbaren Studien nicht für eine Empfehlung an den Verordnungsgeber zur Aufnahme einer entsprechenden BK ausgereicht hätten. In den Jahren 2003/2004 sei das Thema erneut aufgegriffen und dann wieder ruhend gestellt worden, weil in der Zwischenzeit keine neuen epidemiologischen Studien über die Thematik publiziert worden seien (Schreiben vom 28. Oktober 2015).
Ferner hat der erkennende Senat gemäß § 103 SGG den Sachverständigen Dr. H. gehört. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse...