Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. Schockschaden der Mutter. tätlicher Angriff. Vorsatz. kindlicher Täter im Vorschulalter. Rangelei. Schubsen von Brücke

 

Orientierungssatz

Eine Mutter hat keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung infolge eines "Schockschadens", wenn ihr 5 jähriger Sohn während des Spielens bzw einer Rangelei von einem 4 1/2 jährigen Jungen die Brücke heruntergestoßen wird und ertrinkt. Denn einem kindlichen Täter im Vorschulalter fehlen hinsichtlich seiner Handlung sowohl das intellektuelle als auch das voluntative Element des Vorsatzes in Bezug auf eine Gewalttat iS von § 1 Abs S 1 OEG.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 07.04.2011; Aktenzeichen B 9 VG 16/10 B)

BSG (Urteil vom 08.11.2007; Aktenzeichen B 9/9a VG 3/06 R)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Sohn der Klägerin Opfer einer entschädigungspflichtigen Gewalttat i.S.d. Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden ist. Im Verwaltungsverfahren hatte die Klägerin einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung infolge eines sog. "Schockschadens" geltend gemacht.

Die Klägerin ist Mutter des ... 1991 geborenen und ... 1997 gestorbenen F A. Die Klägerin und ihre Familie gehören zur Volksgruppe der Roma und stammen aus dem Kosovo; sie besitzen die serbisch-montenegrinische Staatsangehörigkeit.

Nachdem sich die Familie der Klägerin bereits vom 23. Dezember 1989 bis 07. Juli 1990 und vom 28. September 1990 bis 08. März 1991 im Bundesgebiet aufgehalten hatte, lebt sie seit dem 23. November 1991 durchgängig in der Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin betrieb im Jahr 1990 ein Asylverfahren und in den Jahren 1990/1991, 1992 bis 1995, 1997 sowie 1999 bis 2002 Asylfolgeverfahren. Bis zum 26. September 1995 verfügte die Familie der Klägerin überwiegend über eine Aufenthaltsgestattung für die Bundesrepublik Deutschland, in der Folgezeit wurde sie wegen der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung von Angehörigen der Roma in den Kosovo geduldet (vgl. zur Rechtsgrundlage für die Duldung die von der zuständigen Ausländerbehörde zur Gerichtsakte gereichten Runderlasse des Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, auch bzgl. des Beginns der Abschiebung von straffällig gewordenen Angehörigen der Roma in den Kosovo ab 2005/2006). Nach Auskunft der Ausländerbehörde ist auch in absehbarer Zeit nicht mit einer Abschiebung in den Kosovo zu rechnen, weil die Klägerin geltend macht, seit dem 19. Juni 2005 Mutter eines deutschen Kindes zu sein (vgl. Schreiben des Landkreises H vom 29. November 2005).

Am 19. Februar 1997 spielte der damals 5 1/2-jährige F mit dem damals 4 1/2-jährigen Y N an dem Hochwasser führenden Fluss Nette im Bereich einer Fußgängerbrücke. Aus im Einzelnen streitigen Umständen geriet F in den Fluss, wo er ertrank. Als Todesursache wurde "am ehesten" eine zentrale Lähmung infolge Ertrinkens in Betracht gezogen (vgl. rechtsmedizinischen Gutachten des Dres. G und H vom 28. April 1997).

Zum Geschehensablauf gaben der damals 7-jährige Ch F und der damals 9-jährige M W gegenüber der Polizei zunächst an, dass Y und F auf der Brücke gerangelt hätten. Hierbei sei F abgerutscht und in den Fluss gefallen.

In den polizeilichen Vernehmungen vom 20. Februar 1997 sagte Ch F aus, dass Y sich hinter den sitzenden F gestellt habe und diesen mit seinen Händen in den Fluss geschubst habe. M W gab an, kein direkter Augenzeuge gewesen zu sein.

Der Bruder von Y, G N, gab an, dass sein Bruder beim Nachhausekommen erzählt habe, F in den Fluss geschubst zu haben (Polizeibericht vom 20. Februar 1997).

Während der 4 ½-jährige Y N von der Polizei nicht befragt bzw. vernommen wurde, gab dessen Mutter gegenüber der Polizei an, dass Y und F an der Brücke gespielt und sich dann auf den Steindamm gesetzt hätten. F habe etwas aufheben wollen und sei dabei ausgerutscht. Y habe noch versucht, F festzuhalten, was ihm aber nicht gelungen sei (Polizeilicher Telefonvermerk vom 06. März 1997).

Am 9. Juni 1998 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie machte geltend, infolge des Todes ihres Sohnes psychisch stark beeinträchtigt zu sein. Sie leide unter Depressionen und habe ihre Lebensfreude verloren.

Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass ein vorsätzlicher tätlicher Angriff auf den Sohn der Klägerin nicht nachgewiesen sei. Bereits die Angaben der Augenzeugen Ch F und M W seien widersprüchlich. Einen vollkommen anderen Geschehensablauf habe Y N über seine Mutter verlauten lassen. Letztlich stehe die Aussage eines unmündigen Kindes gegen die eines anderen. Es sei nicht erwiesen, dass Y den F in den Fluss gestoßen habe. Selbst bei Unterstellung dieses Geschehensablaufes wäre eher von einem fahrlässigen als von einem vorsätzlichen Handeln auszugehen (Bescheid vom 31. März 2000 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2000).

Mit der am 3. Oktober 2000 beim Sozialgericht (SG) Hildesheim erhobenen Klage hat die Klägerin vorgetragen, dass die vernehmenden Polizeibeamten ausweislich der Ermittlungsakte keine Zweifel an d...

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