Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Bestattungsgeld. nichtrentenberechtigtes Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Vorsatz. kindlicher Täter im Vorschulalter. Rangelei. Schubsen von einer Brücke
Leitsatz (amtlich)
1. Der Vorsatz nach § 1 Abs. 1 OEG muss auf Rechtsbruch und nicht nur auf ein sozial adäquates Verhalten gerichtet sein (hier: Schubserei, Rangelei unter Vorschulkindern).
2. Ein Kind im Vorschulalter kann nur bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbare Auswirkungen einer eigenen Handlung ungefähr vorhersehen. Bei komplexeren Handlungsabläufen fehlt dagegen entwicklungsbedingt diese Fähigkeit und damit i.d.R. das intellektuelle Moment des Vorsatzes.
3. Ein Kind im Vorschulalter handelt bei konfliktbehafteten Interaktionen (hier: Rangelei / Schubserei nach vorangegangenem Streit mit einem Spielkameraden) rein impulsiv, so dass es i.d.R. auch am voluntativen Element des Vorsatzes fehlt.
Orientierungssatz
Zum Nichtvorliegen eines Anspruchs auf Bestattungsgeld gem § 1 Abs 1 S 1 OEG iVm §§ 9 Nr 4, 36 Abs 3 BVG, wenn der Täter aufgrund seines kindlichen Alters (hier:4 1/2 Jahre) keinen Vorsatz sowohl in intellektueller als auch in voluntativer Hinsicht bezüglich seiner Handlung (hier: Schubsen von einer Brücke) fassen konnte.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Elternrente und Bestattungsgeld nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die Kläger sind Eltern des am 23. September 1991 geborenen und am 19. Februar 1997 verstorbenen I. J.. Sie gehören zur Volksgruppe der Roma, stammen aus dem Kosovo und besitzen die serbisch-montenegrinische Staatsangehörigkeit.
Nachdem sich die Kläger bereits vom 23. Dezember 1989 bis 07. Juli 1990 und vom 28. September 1990 bis 08. März 1991 im Bundesgebiet aufgehalten hatten, leben sie seit dem 23. November 1991 durchgängig in der Bundesrepublik Deutschland. Sie betrieben im Jahr 1990 ein Asylverfahren und in den Jahren 1990/1991, 1992 bis 1995, 1997 sowie 1999 bis 2002 Asylfolgeverfahren. Bis zum 26. September 1995 verfügten die Kläger überwiegend über eine Aufenthaltsgestattung für die Bundesrepublik Deutschland. In der Folgezeit wurden sie wegen der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung von Angehörigen der Roma in den Kosovo geduldet (vgl. zur Rechtsgrundlage für die Duldung die von der zuständigen Ausländerbehörde zur Gerichtsakte gereichten Runderlasse des Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, auch bzgl. des Beginns der Abschiebung von straffällig gewordenen Angehörigen der Roma in den Kosovo ab 2005/2006). Nach Auskunft der Ausländerbehörde ist auch in absehbarer Zeit nicht mit einer Abschiebung der Kläger in den Kosovo zu rechnen, weil die Klägerin zu 2. geltend macht, seit dem 19. Juni 2005 Mutter eines deutschen Kindes zu sein (vgl. Schreiben des Landkreises K. vom 29. November 2005).
Am 19. Februar 1997 spielte der damals 5 1/2-jährige I. mit dem damals 4 1/2-jährigen L. M. an dem Hochwasser führenden Fluss N. im Bereich einer Fußgängerbrücke. Aus im Einzelnen streitigen Umständen geriet I. in den Fluss, wo er ertrank. Als Todesursache wurde “am ehesten„ eine zentrale Lähmung infolge Ertrinkens in Betracht gezogen (vgl. rechtsmedizinischen Gutachten des Dres. O. und P. vom 28. April 1997).
Zum Geschehensablauf gaben der damals 7-jährige Q. R. und der damals 9-jährige S. T. gegenüber der Polizei zunächst an, dass L. und I. auf der Brücke gerangelt hätten. Hierbei sei I. abgerutscht und in den Fluss gefallen.
Der Bruder von L., U. M., gab an, dass sein Bruder beim Nachhausekommen erzählt habe, I. in den Fluss geschubst zu haben (Polizeibericht vom 20. Februar 1997).
In den polizeilichen Vernehmungen vom 20. Februar 1997 sagte Q. R. aus, dass L. sich hinter den sitzenden I. gestellt habe und diesen mit seinen Händen in den Fluss geschubst habe. S. T. gab an, kein direkter Augenzeuge gewesen zu sein.
Während der 4 1/2-jährige L. M. von der Polizei nicht befragt bzw. vernommen wurde, gab dessen Mutter gegenüber der Polizei an, dass L. und I. an der Brücke gespielt und sich dann auf den Steindamm gesetzt hätten. I. habe etwas aufheben wollen und sei dabei ausgerutscht. L. habe noch versucht, I. festzuhalten, was ihm aber nicht gelungen sei (Polizeilicher Telefonvermerk vom 06. März 1997).
Der Beklagte lehnte die am 9. Juni 1998 gestellten Anträge auf Bestattungsgeld und Elternrente mit der Begründung ab, dass aufgrund der sich widersprechenden Angaben der Zeugen ein vorsätzlicher Angriff auf I. nicht nachgewiesen sei. Selbst wenn L. bei dem Gerangel I. geschubst haben sollte, könne nicht nachgewiesen werden, dass der zur Tatzeit 4 1/2-jährige L. das andere Kind bewusst in den Fluss stoßen und eine Straftat habe begehen wollen. Auch in dieser Sachverhaltsvariante sei eher von einem fahrlässigen als vo...